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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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Melchior. Schläfst du denn nicht?
Moritz. Nicht was ihr Schlafen nennt. -- Wir sitzen auf
Kirchthürmen, auf hohen Dachgiebeln -- wo immer wir wollen. ...
Melchior. Ruhelos?
Moritz. Vergnügungshalber. -- Wir streifen um Mai-
bäume, um einsame Waldkapellen. Ueber Volksversammlungen
schweben wir hin, über Unglücksstätten, Gärten, Festplätze. --
In den Wohnhäusern kauern wir im Kamin und hinter den
Bettvorhängen. -- Gieb mir die Hand. -- Wir verkehren nicht
untereinander, aber wir sehen und hören alles, was in der Welt
vor sich geht. Wir wissen, daß alles Dummheit ist, was die
Menschen thun und erstreben, und lachen darüber.
Melchior. Was hilft das?
Moritz. Was braucht es zu helfen? -- Wir sind für
nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch Schlechtes. Wir
stehen hoch, hoch über dem Irdischen -- jeder für sich allein.
Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu langweilig ist.
Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen könnte.
Ueber Jammer oder Jubel sind wir gleich unermeßlich erhaben.
Wir sind mit uns zufrieden und das ist alles! -- Die Lebenden
verachten wir unsagbar, kaum daß wir sie bemitleiden. Sie
erheitern uns mit ihrem Gethue, weil sie als Lebende thatsächlich
nicht zu bemitleiden sind. Wir lächeln bei ihren Tragödien --
jeder für sich -- und stellen unsere Betrachtungen an. -- Gieb
mir die Hand! Wenn du mir die Hand giebst, fällst du um
vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand
giebst. ...
Melchior. Ekelt dich das nicht an?
Moritz. Dazu stehen wir zu hoch. Wir lächeln! -- An
meinem Begräbniß war ich unter den Leidtragenden. Ich habe
Melchior. Schläfſt du denn nicht?
Moritz. Nicht was ihr Schlafen nennt. — Wir ſitzen auf
Kirchthürmen, auf hohen Dachgiebeln — wo immer wir wollen. …
Melchior. Ruhelos?
Moritz. Vergnügungshalber. — Wir ſtreifen um Mai-
bäume, um einſame Waldkapellen. Ueber Volksverſammlungen
ſchweben wir hin, über Unglücksſtätten, Gärten, Feſtplätze. —
In den Wohnhäuſern kauern wir im Kamin und hinter den
Bettvorhängen. — Gieb mir die Hand. — Wir verkehren nicht
untereinander, aber wir ſehen und hören alles, was in der Welt
vor ſich geht. Wir wiſſen, daß alles Dummheit iſt, was die
Menſchen thun und erſtreben, und lachen darüber.
Melchior. Was hilft das?
Moritz. Was braucht es zu helfen? — Wir ſind für
nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch Schlechtes. Wir
ſtehen hoch, hoch über dem Irdiſchen — jeder für ſich allein.
Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu langweilig iſt.
Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen könnte.
Ueber Jammer oder Jubel ſind wir gleich unermeßlich erhaben.
Wir ſind mit uns zufrieden und das iſt alles! — Die Lebenden
verachten wir unſagbar, kaum daß wir ſie bemitleiden. Sie
erheitern uns mit ihrem Gethue, weil ſie als Lebende thatſächlich
nicht zu bemitleiden ſind. Wir lächeln bei ihren Tragödien —
jeder für ſich — und ſtellen unſere Betrachtungen an. — Gieb
mir die Hand! Wenn du mir die Hand giebſt, fällſt du um
vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand
giebſt. …
Melchior. Ekelt dich das nicht an?
Moritz. Dazu ſtehen wir zu hoch. Wir lächeln! — An
meinem Begräbniß war ich unter den Leidtragenden. Ich habe
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[78/0094] Melchior. Schläfſt du denn nicht? Moritz. Nicht was ihr Schlafen nennt. — Wir ſitzen auf Kirchthürmen, auf hohen Dachgiebeln — wo immer wir wollen. … Melchior. Ruhelos? Moritz. Vergnügungshalber. — Wir ſtreifen um Mai- bäume, um einſame Waldkapellen. Ueber Volksverſammlungen ſchweben wir hin, über Unglücksſtätten, Gärten, Feſtplätze. — In den Wohnhäuſern kauern wir im Kamin und hinter den Bettvorhängen. — Gieb mir die Hand. — Wir verkehren nicht untereinander, aber wir ſehen und hören alles, was in der Welt vor ſich geht. Wir wiſſen, daß alles Dummheit iſt, was die Menſchen thun und erſtreben, und lachen darüber. Melchior. Was hilft das? Moritz. Was braucht es zu helfen? — Wir ſind für nichts mehr erreichbar, nicht für Gutes noch Schlechtes. Wir ſtehen hoch, hoch über dem Irdiſchen — jeder für ſich allein. Wir verkehren nicht miteinander, weil uns das zu langweilig iſt. Keiner von uns hegt noch etwas, das ihm abhanden kommen könnte. Ueber Jammer oder Jubel ſind wir gleich unermeßlich erhaben. Wir ſind mit uns zufrieden und das iſt alles! — Die Lebenden verachten wir unſagbar, kaum daß wir ſie bemitleiden. Sie erheitern uns mit ihrem Gethue, weil ſie als Lebende thatſächlich nicht zu bemitleiden ſind. Wir lächeln bei ihren Tragödien — jeder für ſich — und ſtellen unſere Betrachtungen an. — Gieb mir die Hand! Wenn du mir die Hand giebſt, fällſt du um vor Lachen über dem Empfinden, mit dem du mir die Hand giebſt. … Melchior. Ekelt dich das nicht an? Moritz. Dazu ſtehen wir zu hoch. Wir lächeln! — An meinem Begräbniß war ich unter den Leidtragenden. Ich habe

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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/94>, abgerufen am 23.11.2024.