Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.
mich recht gut unterhalten. Das ist Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult wie keiner, und schlich zur Mauer, um mir vor Lachen den Bauch zu halten. Unsere unnahbare Erhabenheit ist thatsächlich der einzige Gesichtspunkt, unter dem der Quark sich verdauen läßt. ... Auch über mich will man gelacht haben, eh' ich mich aufschwang! Melchior. -- Mich lüstet's nicht, über mich zu lachen. Moritz. ... Die Lebenden sind als solche wahrhaftig nicht zu bemitleiden! -- Ich gestehe, ich hätte es auch nie gedacht. Und jetzt ist es mir unfaßbar, wie man so naiv sein kann. Jetzt durchschaue ich den Trug so klar, daß auch nicht ein Wölkchen bleibt. -- Wie magst du nur zaudern, Melchior! Gieb mir die Hand! Im Halsumdrehen stehst du himmelhoch über dir. -- Dein Leben ist Unterlassungssünde. ... Melchior. -- Könnt ihr vergessen? Moritz. Wir können alles. Gieb mir die Hand! Wir können die Jugend bedauern, wie sie ihre Bangigkeit für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm vor stoischer Ueberlegenheit das Herz brechen will. Wir sehen den Kaiser vor Gassenhauern und den Lazzaroni vor der jüngsten Posaune beben. Wir ignoriren die Maske des Komödianten und sehen den Dichter im Dunkeln die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in seiner Bettelhaftigkeit, im Mühseligen und Beladenen den Kapitalisten. Wir beobachten Verliebte und sehen sie vor einander erröthen, ahnend, daß sie betrogene Betrüger sind. Eltern sehen wir Kinder in die Welt setzen, um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich ihr seid, solche Eltern zu haben! -- und sehen die Kinder hingehn und desgleichen thun. Wir können die Unschuld in ihren einsamen Liebesnöthen, die Fünfgroschendirne über die Lectüre Schiller's belauschen. ... Gott und den Teufel sehen wir sich vor einander blamiren und hegen in uns das durch nichts zu erschütternde
mich recht gut unterhalten. Das iſt Erhabenheit, Melchior! Ich habe geheult wie keiner, und ſchlich zur Mauer, um mir vor Lachen den Bauch zu halten. Unſere unnahbare Erhabenheit iſt thatſächlich der einzige Geſichtspunkt, unter dem der Quark ſich verdauen läßt. … Auch über mich will man gelacht haben, eh' ich mich aufſchwang! Melchior. — Mich lüſtet's nicht, über mich zu lachen. Moritz. … Die Lebenden ſind als ſolche wahrhaftig nicht zu bemitleiden! — Ich geſtehe, ich hätte es auch nie gedacht. Und jetzt iſt es mir unfaßbar, wie man ſo naiv ſein kann. Jetzt durchſchaue ich den Trug ſo klar, daß auch nicht ein Wölkchen bleibt. — Wie magſt du nur zaudern, Melchior! Gieb mir die Hand! Im Halsumdrehen ſtehſt du himmelhoch über dir. — Dein Leben iſt Unterlaſſungsſünde. … Melchior. — Könnt ihr vergeſſen? Moritz. Wir können alles. Gieb mir die Hand! Wir können die Jugend bedauern, wie ſie ihre Bangigkeit für Idealismus hält, und das Alter, wie ihm vor ſtoiſcher Ueberlegenheit das Herz brechen will. Wir ſehen den Kaiſer vor Gaſſenhauern und den Lazzaroni vor der jüngſten Poſaune beben. Wir ignoriren die Maske des Komödianten und ſehen den Dichter im Dunkeln die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in ſeiner Bettelhaftigkeit, im Mühſeligen und Beladenen den Kapitaliſten. Wir beobachten Verliebte und ſehen ſie vor einander erröthen, ahnend, daß ſie betrogene Betrüger ſind. Eltern ſehen wir Kinder in die Welt ſetzen, um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich ihr ſeid, ſolche Eltern zu haben! — und ſehen die Kinder hingehn und desgleichen thun. Wir können die Unſchuld in ihren einſamen Liebesnöthen, die Fünfgroſchendirne über die Lectüre Schiller's belauſchen. … Gott und den Teufel ſehen wir ſich vor einander blamiren und hegen in uns das durch nichts zu erſchütternde <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#MOR"> <p><pb facs="#f0095" n="79"/> mich recht gut unterhalten. Das iſt Erhabenheit, Melchior! Ich<lb/> habe geheult wie keiner, und ſchlich zur Mauer, um mir vor<lb/> Lachen den Bauch zu halten. Unſere unnahbare Erhabenheit iſt<lb/> thatſächlich der einzige Geſichtspunkt, unter dem der Quark ſich<lb/> verdauen läßt. … Auch über mich will man gelacht haben,<lb/> eh' ich mich aufſchwang!</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>— Mich lüſtet's nicht, über mich zu lachen.</p> </sp><lb/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>… Die Lebenden ſind als ſolche wahrhaftig<lb/> nicht zu bemitleiden! — Ich geſtehe, ich hätte es auch nie gedacht.<lb/> Und jetzt iſt es mir unfaßbar, wie man ſo naiv ſein kann. Jetzt<lb/> durchſchaue ich den Trug ſo klar, daß auch nicht ein Wölkchen<lb/> bleibt. — Wie magſt du nur zaudern, Melchior! Gieb mir die<lb/> Hand! Im Halsumdrehen ſtehſt du himmelhoch über dir. —<lb/> Dein Leben iſt Unterlaſſungsſünde. …</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>— Könnt ihr vergeſſen?</p> </sp><lb/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>Wir können alles. Gieb mir die Hand! Wir<lb/> können die Jugend bedauern, wie ſie ihre Bangigkeit für Idealismus<lb/> hält, und das Alter, wie ihm vor ſtoiſcher Ueberlegenheit das<lb/> Herz brechen will. Wir ſehen den Kaiſer vor Gaſſenhauern und<lb/> den Lazzaroni vor der jüngſten Poſaune beben. Wir ignoriren<lb/> die Maske des Komödianten und ſehen den Dichter im Dunkeln<lb/> die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in ſeiner<lb/> Bettelhaftigkeit, im Mühſeligen und Beladenen den Kapitaliſten.<lb/> Wir beobachten Verliebte und ſehen ſie vor einander erröthen,<lb/> ahnend, daß ſie betrogene Betrüger ſind. Eltern ſehen wir Kinder<lb/> in die Welt ſetzen, um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich<lb/> ihr ſeid, ſolche Eltern zu haben! — und ſehen die Kinder hingehn<lb/> und desgleichen thun. Wir können die Unſchuld in ihren einſamen<lb/> Liebesnöthen, die Fünfgroſchendirne über die Lectüre Schiller's<lb/> belauſchen. … Gott und den Teufel ſehen wir ſich vor einander<lb/> blamiren und hegen in uns das durch nichts zu erſchütternde<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [79/0095]
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habe geheult wie keiner, und ſchlich zur Mauer, um mir vor
Lachen den Bauch zu halten. Unſere unnahbare Erhabenheit iſt
thatſächlich der einzige Geſichtspunkt, unter dem der Quark ſich
verdauen läßt. … Auch über mich will man gelacht haben,
eh' ich mich aufſchwang!
Melchior. — Mich lüſtet's nicht, über mich zu lachen.
Moritz. … Die Lebenden ſind als ſolche wahrhaftig
nicht zu bemitleiden! — Ich geſtehe, ich hätte es auch nie gedacht.
Und jetzt iſt es mir unfaßbar, wie man ſo naiv ſein kann. Jetzt
durchſchaue ich den Trug ſo klar, daß auch nicht ein Wölkchen
bleibt. — Wie magſt du nur zaudern, Melchior! Gieb mir die
Hand! Im Halsumdrehen ſtehſt du himmelhoch über dir. —
Dein Leben iſt Unterlaſſungsſünde. …
Melchior. — Könnt ihr vergeſſen?
Moritz. Wir können alles. Gieb mir die Hand! Wir
können die Jugend bedauern, wie ſie ihre Bangigkeit für Idealismus
hält, und das Alter, wie ihm vor ſtoiſcher Ueberlegenheit das
Herz brechen will. Wir ſehen den Kaiſer vor Gaſſenhauern und
den Lazzaroni vor der jüngſten Poſaune beben. Wir ignoriren
die Maske des Komödianten und ſehen den Dichter im Dunkeln
die Maske vornehmen. Wir erblicken den Zufriedenen in ſeiner
Bettelhaftigkeit, im Mühſeligen und Beladenen den Kapitaliſten.
Wir beobachten Verliebte und ſehen ſie vor einander erröthen,
ahnend, daß ſie betrogene Betrüger ſind. Eltern ſehen wir Kinder
in die Welt ſetzen, um ihnen zurufen zu können: Wie glücklich
ihr ſeid, ſolche Eltern zu haben! — und ſehen die Kinder hingehn
und desgleichen thun. Wir können die Unſchuld in ihren einſamen
Liebesnöthen, die Fünfgroſchendirne über die Lectüre Schiller's
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