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Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.

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eigenes Recht und Gesetz; man wird Romein1 darin beipflichten, daß die pwe_117.002
Biographie einer Persönlichkeit als solcher gelten und nicht Ethik, Historie, pwe_117.003
Biologie oder Psychologie sein soll (und also auch nicht Poetik); aber je pwe_117.004
nach dem Helden und dem Interesse des Biographen werden diese andern pwe_117.005
Bereiche im wechselnden Maß zur Geltung kommen müssen. Es ist gerade pwe_117.006
die Schönheit und Unersetzlichkeit der Biographie, daß nirgends so wie hier pwe_117.007
die runde Ganzheit und Allseitigkeit des Menschlichen erscheinen muß pwe_117.008
und auch die Dichtung als Werk wieder in ein umfassendes Leben zurückgenommen pwe_117.009
wird. Das beglückendste Beispiel dafür ist wohl die biographische pwe_117.010
Meisterleistung von Friedrich Sengles Wieland2. Es ist ein fast pwe_117.011
reaktionäres Werk in seinem Bekenntnis zur ruhigen historischen Anschauung pwe_117.012
einer reich facettierten Persönlichkeit in ihrer Umgebung von Menschen pwe_117.013
und Mächten, von Zeit und Gesellschaft, und in seinem Verzicht auf pwe_117.014
formelhaft-geistesgeschichtliche oder gar "mythologische" Zusammenschau. pwe_117.015
Wieland soll "aus dem Kern seiner Persönlichkeit" und doch "in dem mannigfaltigen pwe_117.016
Schwanken, in dem unheimlichen Flimmern seines Lebenslaufes pwe_117.017
und Werkes, in der endlosen Ironisierung und Komplizierung seiner Gegenstände" pwe_117.018
... "nicht definiert, sondern in einer sorgfältigen Darstellung pwe_117.019
seiner Geschichte sichtbar gemacht werden". Aber das bedeutet auch keinen pwe_117.020
Rückfall in irgend einen Positivismus, denn die Klugheit und Kritik einer pwe_117.021
humanen Gesinnung bleiben wach, und vor allem bewährt sich diesem für pwe_117.022
Deutschland so seltenen "frohen und wirklich weisen Schriftsteller" gegenüber pwe_117.023
das, was seinen literaturwissenschaftlichen Ausdruck nur in einer Biographie pwe_117.024
finden kann: die Liebe zu einem Dichter3.

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Die moderne Literaturwissenschaft steht dem Begriff des Lebens und pwe_117.026
Erlebens ablehnend gegenüber, operiert dagegen gern mit dem Begriff der pwe_117.027
Existenz. Sofern das mehr als der modische Ersatz einer Unbekannten pwe_117.028
durch eine andere ist, so ist damit offensichtlich bezweckt, von den biologischen pwe_117.029
oder idealistischen Assoziationen wegzukommen in die Zone konkret-menschlicher

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Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik. pwe_117.031
Bern 1948.
2 pwe_117.032
Friedrich Sengle, Wieland. Stuttgart 1949. - Friedrich Sengle, Methodenfragen pwe_117.033
der Biographie.
Euphorion 46 (1952, noch nicht erschienen).
3 pwe_117.034
Als weitere Beispiele biographischer Darstellung - ganz verschiedenen Stils pwe_117.035
- seien genannt: Hans Pyritz, Goethe und Marianne von Willemer. Eine biographische pwe_117.036
Studie.
Stuttgart 1941. - Paul Hankamer, Spiel der Mächte. Ein Kapitel pwe_117.037
aus Goethes Leben und Goethes Welt.
Tübingen 1943. - Bernard von Brentano, pwe_117.038
August Wilhelm Schlegel. Geschichte eines romantischen Geistes. 3. Aufl. pwe_117.039
Stuttgart 1949. - Und außerhalb des literarischen Bereichs die glänzende Burckhardt-Biographie: pwe_117.040
Werner Kaegi, Jakob Burckhardt. Eine Biographie. I. Basel 1947. pwe_117.041
II. 1950.

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eigenes Recht und Gesetz; man wird Romein1 darin beipflichten, daß die pwe_117.002
Biographie einer Persönlichkeit als solcher gelten und nicht Ethik, Historie, pwe_117.003
Biologie oder Psychologie sein soll (und also auch nicht Poetik); aber je pwe_117.004
nach dem Helden und dem Interesse des Biographen werden diese andern pwe_117.005
Bereiche im wechselnden Maß zur Geltung kommen müssen. Es ist gerade pwe_117.006
die Schönheit und Unersetzlichkeit der Biographie, daß nirgends so wie hier pwe_117.007
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und auch die Dichtung als Werk wieder in ein umfassendes Leben zurückgenommen pwe_117.009
wird. Das beglückendste Beispiel dafür ist wohl die biographische pwe_117.010
Meisterleistung von Friedrich Sengles Wieland2. Es ist ein fast pwe_117.011
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einer reich facettierten Persönlichkeit in ihrer Umgebung von Menschen pwe_117.013
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Wieland soll „aus dem Kern seiner Persönlichkeit“ und doch „in dem mannigfaltigen pwe_117.016
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humanen Gesinnung bleiben wach, und vor allem bewährt sich diesem für pwe_117.022
Deutschland so seltenen „frohen und wirklich weisen Schriftsteller“ gegenüber pwe_117.023
das, was seinen literaturwissenschaftlichen Ausdruck nur in einer Biographie pwe_117.024
finden kann: die Liebe zu einem Dichter3.

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  Die moderne Literaturwissenschaft steht dem Begriff des Lebens und pwe_117.026
Erlebens ablehnend gegenüber, operiert dagegen gern mit dem Begriff der pwe_117.027
Existenz. Sofern das mehr als der modische Ersatz einer Unbekannten pwe_117.028
durch eine andere ist, so ist damit offensichtlich bezweckt, von den biologischen pwe_117.029
oder idealistischen Assoziationen wegzukommen in die Zone konkret-menschlicher

1 pwe_117.030
Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik. pwe_117.031
Bern 1948.
2 pwe_117.032
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der Biographie.
Euphorion 46 (1952, noch nicht erschienen).
3 pwe_117.034
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[117/0123] pwe_117.001 eigenes Recht und Gesetz; man wird Romein 1 darin beipflichten, daß die pwe_117.002 Biographie einer Persönlichkeit als solcher gelten und nicht Ethik, Historie, pwe_117.003 Biologie oder Psychologie sein soll (und also auch nicht Poetik); aber je pwe_117.004 nach dem Helden und dem Interesse des Biographen werden diese andern pwe_117.005 Bereiche im wechselnden Maß zur Geltung kommen müssen. Es ist gerade pwe_117.006 die Schönheit und Unersetzlichkeit der Biographie, daß nirgends so wie hier pwe_117.007 die runde Ganzheit und Allseitigkeit des Menschlichen erscheinen muß pwe_117.008 und auch die Dichtung als Werk wieder in ein umfassendes Leben zurückgenommen pwe_117.009 wird. Das beglückendste Beispiel dafür ist wohl die biographische pwe_117.010 Meisterleistung von Friedrich Sengles Wieland 2. Es ist ein fast pwe_117.011 reaktionäres Werk in seinem Bekenntnis zur ruhigen historischen Anschauung pwe_117.012 einer reich facettierten Persönlichkeit in ihrer Umgebung von Menschen pwe_117.013 und Mächten, von Zeit und Gesellschaft, und in seinem Verzicht auf pwe_117.014 formelhaft-geistesgeschichtliche oder gar „mythologische“ Zusammenschau. pwe_117.015 Wieland soll „aus dem Kern seiner Persönlichkeit“ und doch „in dem mannigfaltigen pwe_117.016 Schwanken, in dem unheimlichen Flimmern seines Lebenslaufes pwe_117.017 und Werkes, in der endlosen Ironisierung und Komplizierung seiner Gegenstände“ pwe_117.018 ... „nicht definiert, sondern in einer sorgfältigen Darstellung pwe_117.019 seiner Geschichte sichtbar gemacht werden“. Aber das bedeutet auch keinen pwe_117.020 Rückfall in irgend einen Positivismus, denn die Klugheit und Kritik einer pwe_117.021 humanen Gesinnung bleiben wach, und vor allem bewährt sich diesem für pwe_117.022 Deutschland so seltenen „frohen und wirklich weisen Schriftsteller“ gegenüber pwe_117.023 das, was seinen literaturwissenschaftlichen Ausdruck nur in einer Biographie pwe_117.024 finden kann: die Liebe zu einem Dichter 3. pwe_117.025   Die moderne Literaturwissenschaft steht dem Begriff des Lebens und pwe_117.026 Erlebens ablehnend gegenüber, operiert dagegen gern mit dem Begriff der pwe_117.027 Existenz. Sofern das mehr als der modische Ersatz einer Unbekannten pwe_117.028 durch eine andere ist, so ist damit offensichtlich bezweckt, von den biologischen pwe_117.029 oder idealistischen Assoziationen wegzukommen in die Zone konkret-menschlicher 1 pwe_117.030 Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik. pwe_117.031 Bern 1948. 2 pwe_117.032 Friedrich Sengle, Wieland. Stuttgart 1949. – Friedrich Sengle, Methodenfragen pwe_117.033 der Biographie. Euphorion 46 (1952, noch nicht erschienen). 3 pwe_117.034 Als weitere Beispiele biographischer Darstellung – ganz verschiedenen Stils pwe_117.035 – seien genannt: Hans Pyritz, Goethe und Marianne von Willemer. Eine biographische pwe_117.036 Studie. Stuttgart 1941. – Paul Hankamer, Spiel der Mächte. Ein Kapitel pwe_117.037 aus Goethes Leben und Goethes Welt. Tübingen 1943. – Bernard von Brentano, pwe_117.038 August Wilhelm Schlegel. Geschichte eines romantischen Geistes. 3. Aufl. pwe_117.039 Stuttgart 1949. – Und außerhalb des literarischen Bereichs die glänzende Burckhardt-Biographie: pwe_117.040 Werner Kaegi, Jakob Burckhardt. Eine Biographie. I. Basel 1947. pwe_117.041 II. 1950.

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Zitationshilfe: Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wehrli_poetik_1951/123>, abgerufen am 27.11.2024.