Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_133.001 Entsprechend der Trennung von kalendarischer und existentieller Zeit pwe_133.026 1 pwe_133.039 Michel Dragomirescu, La science de la litterature. Paris 1929 ff. 2 pwe_133.040
Kurt May, Über die gegenwärtige Situation einer deutschen Literaturwissenschaft. pwe_133.041 Trivium V (1947) 293 ff. pwe_133.001 Entsprechend der Trennung von kalendarischer und existentieller Zeit pwe_133.026 1 pwe_133.039 Michel Dragomirescu, La science de la littérature. Paris 1929 ff. 2 pwe_133.040
Kurt May, Über die gegenwärtige Situation einer deutschen Literaturwissenschaft. pwe_133.041 Trivium V (1947) 293 ff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0139" n="133"/><lb n="pwe_133.001"/> nicht nur die Reaktionsbewegung einer Rückkehr zu den Sachen selbst und <lb n="pwe_133.002"/> nicht nur die Neubesinnung auf die Würde der Dichtkunst im Sinn der <lb n="pwe_133.003"/> Symbolisten, der absoluten Poesie und des George-Kreises zugrunde. Dahinter <lb n="pwe_133.004"/> steht ein <hi rendition="#i">Zerfall des geschichtlichen Bewußtseins</hi> oder mindestens der <lb n="pwe_133.005"/> herkömmlichen Geschichtsbegriffe von epochaler Art. Geschichte kann nicht <lb n="pwe_133.006"/> mehr als Selbstverwirklichung des Geistes im Hegelschen Sinne verstanden <lb n="pwe_133.007"/> werden; die Entdeckung der seelischen Tiefenschichten des Menschen durch <lb n="pwe_133.008"/> die Psychologie, die Entlarvung so mancher geistigen Position als Ideologie, <lb n="pwe_133.009"/> die Ergründung der Welt der Primitiven durch die Völkerkunde lassen <lb n="pwe_133.010"/> die Geschichte nicht mehr – mit ohnehin fragwürdiger biologischer Metapher <lb n="pwe_133.011"/> – als Entwicklung, sondern viel eher als Schichtengefüge erscheinen, <lb n="pwe_133.012"/> in dem alle Zeiten zugleich vorhanden sind. Die Existenzphilosophie läßt <lb n="pwe_133.013"/> echtes Dasein sich immer neu aus dem Ursprung zeitigen: echte Existenz, <lb n="pwe_133.014"/> auch im Kunstwerk, ist nicht als Entwicklung, sondern nur als Wiederholung <lb n="pwe_133.015"/> möglich; die großen Geister, die großen Kunstwerke reichen sich <lb n="pwe_133.016"/> über die Zeiten hinweg die Hand, sie sagen im Grunde alle dasselbe (<hi rendition="#k">Hei- <lb n="pwe_133.017"/> degger</hi>). Die Zeit kann nicht mehr als neutraler gerichteter Verlauf begriffen <lb n="pwe_133.018"/> werden; sie zerfällt in die gelebte und die „bloß“ kalendarische Zeit. <lb n="pwe_133.019"/> Es gibt keine historische Perspektive mehr, die die Verläufe auf den jeweiligen <lb n="pwe_133.020"/> perspektivischen Punkt bezieht. Die Zeit wird als vierte Dimension <lb n="pwe_133.021"/> in eine übergeordnete Raum-Zeit-Einheit aufgenommen: auch in der modernen <lb n="pwe_133.022"/> Dichtung ist dieses Zeitproblem zentral und wird durch eine neue <lb n="pwe_133.023"/> Technik der Umkehrungen der zeitlichen Verläufe oder des Durchsichtigmachens <lb n="pwe_133.024"/> aufeinander zu lösen versucht.</p> <lb n="pwe_133.025"/> <p> Entsprechend der Trennung von kalendarischer und existentieller Zeit <lb n="pwe_133.026"/> trennt sich das große Traditionsgefüge der Literatur in die sogenannte <lb n="pwe_133.027"/> <hi rendition="#g">Literatur</hi> und die großen Werke echter <hi rendition="#g">Dichtung.</hi> Schon im Moment, <lb n="pwe_133.028"/> da <hi rendition="#k">Croce</hi> die „Poesie“ auf einen so engen Kreis einschränkt und von <lb n="pwe_133.029"/> der zivilisatorischen „Literatur“ trennt, da <hi rendition="#k">Werner Mahrholz</hi> die große <lb n="pwe_133.030"/> „zeitlose“ Dichtung von der „Literatur“ trennt und die historische Methode <lb n="pwe_133.031"/> nur noch für diese gelten läßt, ist Literarhistorie auf den Aussterbe-Etat <lb n="pwe_133.032"/> gesetzt – denn sie hat damit ihr eigentliches Interesse verloren. So lassen <lb n="pwe_133.033"/> sich denn auch heute die antihistorischen Proklamationen der Literaturwissenschaft <lb n="pwe_133.034"/> in großer Zahl anführen. Schon seit 1928 baut <hi rendition="#k">Dragomirescu</hi><note xml:id="PWE_133_1" place="foot" n="1"><lb n="pwe_133.039"/> Michel Dragomirescu, <hi rendition="#i">La science de la littérature.</hi> Paris 1929 ff.</note> <lb n="pwe_133.035"/> seine große Ästhetik der Literatur auf der These auf: „La méthode historique <lb n="pwe_133.036"/> est impuissante pour l'étude scientifique de la littérature“. Die Zeitschrift <lb n="pwe_133.037"/> <hi rendition="#i">Trivium</hi> redet einer „philologischen“, nicht einer historischen Literaturwissenschaft <lb n="pwe_133.038"/> das Wort, und <hi rendition="#k">Kurt May</hi><note xml:id="PWE_133_2" place="foot" n="2"><lb n="pwe_133.040"/> Kurt May, <hi rendition="#i">Über die gegenwärtige Situation einer deutschen Literaturwissenschaft.</hi> <lb n="pwe_133.041"/> Trivium V (1947) 293 ff.</note> empfiehlt dieser eine stilkritische </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [133/0139]
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nicht nur die Reaktionsbewegung einer Rückkehr zu den Sachen selbst und pwe_133.002
nicht nur die Neubesinnung auf die Würde der Dichtkunst im Sinn der pwe_133.003
Symbolisten, der absoluten Poesie und des George-Kreises zugrunde. Dahinter pwe_133.004
steht ein Zerfall des geschichtlichen Bewußtseins oder mindestens der pwe_133.005
herkömmlichen Geschichtsbegriffe von epochaler Art. Geschichte kann nicht pwe_133.006
mehr als Selbstverwirklichung des Geistes im Hegelschen Sinne verstanden pwe_133.007
werden; die Entdeckung der seelischen Tiefenschichten des Menschen durch pwe_133.008
die Psychologie, die Entlarvung so mancher geistigen Position als Ideologie, pwe_133.009
die Ergründung der Welt der Primitiven durch die Völkerkunde lassen pwe_133.010
die Geschichte nicht mehr – mit ohnehin fragwürdiger biologischer Metapher pwe_133.011
– als Entwicklung, sondern viel eher als Schichtengefüge erscheinen, pwe_133.012
in dem alle Zeiten zugleich vorhanden sind. Die Existenzphilosophie läßt pwe_133.013
echtes Dasein sich immer neu aus dem Ursprung zeitigen: echte Existenz, pwe_133.014
auch im Kunstwerk, ist nicht als Entwicklung, sondern nur als Wiederholung pwe_133.015
möglich; die großen Geister, die großen Kunstwerke reichen sich pwe_133.016
über die Zeiten hinweg die Hand, sie sagen im Grunde alle dasselbe (Hei- pwe_133.017
degger). Die Zeit kann nicht mehr als neutraler gerichteter Verlauf begriffen pwe_133.018
werden; sie zerfällt in die gelebte und die „bloß“ kalendarische Zeit. pwe_133.019
Es gibt keine historische Perspektive mehr, die die Verläufe auf den jeweiligen pwe_133.020
perspektivischen Punkt bezieht. Die Zeit wird als vierte Dimension pwe_133.021
in eine übergeordnete Raum-Zeit-Einheit aufgenommen: auch in der modernen pwe_133.022
Dichtung ist dieses Zeitproblem zentral und wird durch eine neue pwe_133.023
Technik der Umkehrungen der zeitlichen Verläufe oder des Durchsichtigmachens pwe_133.024
aufeinander zu lösen versucht.
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Entsprechend der Trennung von kalendarischer und existentieller Zeit pwe_133.026
trennt sich das große Traditionsgefüge der Literatur in die sogenannte pwe_133.027
Literatur und die großen Werke echter Dichtung. Schon im Moment, pwe_133.028
da Croce die „Poesie“ auf einen so engen Kreis einschränkt und von pwe_133.029
der zivilisatorischen „Literatur“ trennt, da Werner Mahrholz die große pwe_133.030
„zeitlose“ Dichtung von der „Literatur“ trennt und die historische Methode pwe_133.031
nur noch für diese gelten läßt, ist Literarhistorie auf den Aussterbe-Etat pwe_133.032
gesetzt – denn sie hat damit ihr eigentliches Interesse verloren. So lassen pwe_133.033
sich denn auch heute die antihistorischen Proklamationen der Literaturwissenschaft pwe_133.034
in großer Zahl anführen. Schon seit 1928 baut Dragomirescu 1 pwe_133.035
seine große Ästhetik der Literatur auf der These auf: „La méthode historique pwe_133.036
est impuissante pour l'étude scientifique de la littérature“. Die Zeitschrift pwe_133.037
Trivium redet einer „philologischen“, nicht einer historischen Literaturwissenschaft pwe_133.038
das Wort, und Kurt May 2 empfiehlt dieser eine stilkritische
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Michel Dragomirescu, La science de la littérature. Paris 1929 ff.
2 pwe_133.040
Kurt May, Über die gegenwärtige Situation einer deutschen Literaturwissenschaft. pwe_133.041
Trivium V (1947) 293 ff.
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