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Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.

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I. ALLGEMEINES
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1. zur situation der literaturwissenschaft
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Literaturwissenschaft ist als Geisteswissenschaft und speziell als Wissenschaft pwe_009.004
von der sublimsten Form menschlicher Gestaltung, der Gestaltung mit pwe_009.005
dem dichterischen Wort, nicht eine bloße Sonder- und Fachwissenschaft. Sie pwe_009.006
gedeiht nur in der engsten Wechselwirkung mit den Nachbarwissenschaften pwe_009.007
und darüber hinaus mit dem bewußten oder unbewußten Bild, das sich der pwe_009.008
Mensch von sich selbst und der Welt macht, im Handeln, im Erkennen und pwe_009.009
vor allem auch im künstlerischen Gestalten selbst. Da ihre Fragestellung pwe_009.010
immer unter der Frage nach dem Wesen des Menschen steht, ja eine implizite pwe_009.011
Antwort immer schon im Ansatz der Frage gegeben hat, so ist ihre Geschichte pwe_009.012
wesentlich nicht die Geschichte eines internen Fortschritts und einer pwe_009.013
Perfektion der Methoden, sondern zum guten Teil die Geschichte von Funktionen pwe_009.014
und Reaktionen geistiger Ereignisse außerhalb ihres engeren Bereichs. pwe_009.015
Sie hat selber zu der Einsicht entscheidend beigetragen, daß jede wissenschaftliche pwe_009.016
Methode bereits von allgemeinen Vorentscheiden, Vorurteilen pwe_009.017
bestimmt ist.

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Das Schicksal der deutschen Literaturwissenschaft ist weithin von ihrem pwe_009.019
Ursprung im Idealismus der deutschen Klassik bestimmt. Daß dieser die pwe_009.020
Dichtung als höchste Manifestation der schöpferischen Vernunft oder Vernunft-Natur pwe_009.021
begriff, teilte der Literaturwissenschaft den Charakter einer pwe_009.022
Schlüsselstellung mit und ließ jede spätere Selbstbesinnung immer wieder pwe_009.023
zu einer Besinnung auf jene erste glänzende Position in der Zeit von Kant pwe_009.024
und Herder werden. Seit diesem Ursprung ist umgekehrt die Literaturwissenschaft pwe_009.025
in Deutschland gesegnet und belastet mit philosophischen Voraussetzungen pwe_009.026
und Ansprüchen, die immer wieder die sachliche Wissenschaft pwe_009.027
in Theorie, in Methodologie und Metaphysik übergehen ließ. So scheint es pwe_009.028
mindestens dem angelsächsischen Blick, wenn etwa amerikanische Gelehrte pwe_009.029
davon sprechen, die deutsche Wissenschaft neige dazu, "an inverted pyramid pwe_009.030
of theory on a pin-point base of reality" zu konstruieren (R. H. Fife) oder pwe_009.031
"grandiose theories and pretentious verbalisms" zu produzieren (Wellek- pwe_009.032
Warren
). Wogegen der Deutsche wohl mit Recht und wieder einiger Theorie pwe_009.033
auf die Fragwürdigkeit dieses reality-Begriffs hinweisen würde.

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Das Bild vom Menschen als dem Träger der freien schöpferischen Vernunft pwe_009.035
strahlte tief ins 19. Jahrhundert hinab, ja wurde im Raum der Geistes-

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I. ALLGEMEINES
pwe_009.002
1. zur situation der literaturwissenschaft
pwe_009.003

Literaturwissenschaft ist als Geisteswissenschaft und speziell als Wissenschaft pwe_009.004
von der sublimsten Form menschlicher Gestaltung, der Gestaltung mit pwe_009.005
dem dichterischen Wort, nicht eine bloße Sonder- und Fachwissenschaft. Sie pwe_009.006
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und darüber hinaus mit dem bewußten oder unbewußten Bild, das sich der pwe_009.008
Mensch von sich selbst und der Welt macht, im Handeln, im Erkennen und pwe_009.009
vor allem auch im künstlerischen Gestalten selbst. Da ihre Fragestellung pwe_009.010
immer unter der Frage nach dem Wesen des Menschen steht, ja eine implizite pwe_009.011
Antwort immer schon im Ansatz der Frage gegeben hat, so ist ihre Geschichte pwe_009.012
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Sie hat selber zu der Einsicht entscheidend beigetragen, daß jede wissenschaftliche pwe_009.016
Methode bereits von allgemeinen Vorentscheiden, Vorurteilen pwe_009.017
bestimmt ist.

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  Das Schicksal der deutschen Literaturwissenschaft ist weithin von ihrem pwe_009.019
Ursprung im Idealismus der deutschen Klassik bestimmt. Daß dieser die pwe_009.020
Dichtung als höchste Manifestation der schöpferischen Vernunft oder Vernunft-Natur pwe_009.021
begriff, teilte der Literaturwissenschaft den Charakter einer pwe_009.022
Schlüsselstellung mit und ließ jede spätere Selbstbesinnung immer wieder pwe_009.023
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in Deutschland gesegnet und belastet mit philosophischen Voraussetzungen pwe_009.026
und Ansprüchen, die immer wieder die sachliche Wissenschaft pwe_009.027
in Theorie, in Methodologie und Metaphysik übergehen ließ. So scheint es pwe_009.028
mindestens dem angelsächsischen Blick, wenn etwa amerikanische Gelehrte pwe_009.029
davon sprechen, die deutsche Wissenschaft neige dazu, „an inverted pyramid pwe_009.030
of theory on a pin-point base of reality“ zu konstruieren (R. H. Fife) oder pwe_009.031
„grandiose theories and pretentious verbalisms“ zu produzieren (Wellek- pwe_009.032
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). Wogegen der Deutsche wohl mit Recht und wieder einiger Theorie pwe_009.033
auf die Fragwürdigkeit dieses reality-Begriffs hinweisen würde.

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  Das Bild vom Menschen als dem Träger der freien schöpferischen Vernunft pwe_009.035
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[E9/0015] pwe_009.001 I. ALLGEMEINES pwe_009.002 1. zur situation der literaturwissenschaft pwe_009.003 Literaturwissenschaft ist als Geisteswissenschaft und speziell als Wissenschaft pwe_009.004 von der sublimsten Form menschlicher Gestaltung, der Gestaltung mit pwe_009.005 dem dichterischen Wort, nicht eine bloße Sonder- und Fachwissenschaft. Sie pwe_009.006 gedeiht nur in der engsten Wechselwirkung mit den Nachbarwissenschaften pwe_009.007 und darüber hinaus mit dem bewußten oder unbewußten Bild, das sich der pwe_009.008 Mensch von sich selbst und der Welt macht, im Handeln, im Erkennen und pwe_009.009 vor allem auch im künstlerischen Gestalten selbst. Da ihre Fragestellung pwe_009.010 immer unter der Frage nach dem Wesen des Menschen steht, ja eine implizite pwe_009.011 Antwort immer schon im Ansatz der Frage gegeben hat, so ist ihre Geschichte pwe_009.012 wesentlich nicht die Geschichte eines internen Fortschritts und einer pwe_009.013 Perfektion der Methoden, sondern zum guten Teil die Geschichte von Funktionen pwe_009.014 und Reaktionen geistiger Ereignisse außerhalb ihres engeren Bereichs. pwe_009.015 Sie hat selber zu der Einsicht entscheidend beigetragen, daß jede wissenschaftliche pwe_009.016 Methode bereits von allgemeinen Vorentscheiden, Vorurteilen pwe_009.017 bestimmt ist. pwe_009.018   Das Schicksal der deutschen Literaturwissenschaft ist weithin von ihrem pwe_009.019 Ursprung im Idealismus der deutschen Klassik bestimmt. Daß dieser die pwe_009.020 Dichtung als höchste Manifestation der schöpferischen Vernunft oder Vernunft-Natur pwe_009.021 begriff, teilte der Literaturwissenschaft den Charakter einer pwe_009.022 Schlüsselstellung mit und ließ jede spätere Selbstbesinnung immer wieder pwe_009.023 zu einer Besinnung auf jene erste glänzende Position in der Zeit von Kant pwe_009.024 und Herder werden. Seit diesem Ursprung ist umgekehrt die Literaturwissenschaft pwe_009.025 in Deutschland gesegnet und belastet mit philosophischen Voraussetzungen pwe_009.026 und Ansprüchen, die immer wieder die sachliche Wissenschaft pwe_009.027 in Theorie, in Methodologie und Metaphysik übergehen ließ. So scheint es pwe_009.028 mindestens dem angelsächsischen Blick, wenn etwa amerikanische Gelehrte pwe_009.029 davon sprechen, die deutsche Wissenschaft neige dazu, „an inverted pyramid pwe_009.030 of theory on a pin-point base of reality“ zu konstruieren (R. H. Fife) oder pwe_009.031 „grandiose theories and pretentious verbalisms“ zu produzieren (Wellek- pwe_009.032 Warren). Wogegen der Deutsche wohl mit Recht und wieder einiger Theorie pwe_009.033 auf die Fragwürdigkeit dieses reality-Begriffs hinweisen würde. pwe_009.034   Das Bild vom Menschen als dem Träger der freien schöpferischen Vernunft pwe_009.035 strahlte tief ins 19. Jahrhundert hinab, ja wurde im Raum der Geistes-

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Zitationshilfe: Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. E9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wehrli_poetik_1951/15>, abgerufen am 21.11.2024.