Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_039.001 pwe_039.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0045" n="39"/><lb n="pwe_039.001"/> bei den späten Gedichten gelegentlich die Rettung eines ganzen, bereits <lb n="pwe_039.002"/> dem Konto der „geistigen Umnachtung“ gutgeschriebenen Gedichtes bedeutet, <lb n="pwe_039.003"/> es galt nicht nur, aus dem handschriftlichen Material neue Fragmente zu <lb n="pwe_039.004"/> gewinnen und ganze Dichtungen zu rekonstruieren. Es galt vor allem auch, <lb n="pwe_039.005"/> in die durch Streichungen, Korrekturen, Überarbeitungen unendlich kompliziert <lb n="pwe_039.006"/> gewordenen Manuskripte einzudringen, die Schichten und Etappen <lb n="pwe_039.007"/> der Niederschrift voneinander zu lösen, den <hi rendition="#g">Werdegang des Gedichts</hi> <lb n="pwe_039.008"/> zu erfassen, dem eigentlichen Schöpfungsprozeß nachzuspüren und <lb n="pwe_039.009"/> damit oft das Gedicht erst in seinem Sinn zu erhellen. Das Ergebnis ist <lb n="pwe_039.010"/> nun aber erst noch editionstechnisch darzustellen. <hi rendition="#k">Beissner</hi> findet einen <lb n="pwe_039.011"/> überzeugenden neuen Weg, das immer synchronische Manuskript diachronisch <lb n="pwe_039.012"/> lesbar zu machen: durch eine Numerierung und entsprechende typographische <lb n="pwe_039.013"/> Anordnung werden die Etappen und Varianten wort-, wortgruppen-, vers- <lb n="pwe_039.014"/> oder versgruppenweise in ihren Entstehungsrelationen übersichtlich. So <lb n="pwe_039.015"/> wird diese Hölderlinausgabe zu einem Werk, das nicht nur einen überraschend <lb n="pwe_039.016"/> neuen Text bietet, sondern methodisch epochemachend ist. Es ist <lb n="pwe_039.017"/> darüber hinaus die schönste Dokumentation der Unzertrennlichkeit von <lb n="pwe_039.018"/> ästhetischer Interpretation, historischer Forschung und philologischer Technik <lb n="pwe_039.019"/> in der <hi rendition="#i">einen</hi> Literaturwissenschaft.</p> </div> </body> </text> </TEI> [39/0045]
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bei den späten Gedichten gelegentlich die Rettung eines ganzen, bereits pwe_039.002
dem Konto der „geistigen Umnachtung“ gutgeschriebenen Gedichtes bedeutet, pwe_039.003
es galt nicht nur, aus dem handschriftlichen Material neue Fragmente zu pwe_039.004
gewinnen und ganze Dichtungen zu rekonstruieren. Es galt vor allem auch, pwe_039.005
in die durch Streichungen, Korrekturen, Überarbeitungen unendlich kompliziert pwe_039.006
gewordenen Manuskripte einzudringen, die Schichten und Etappen pwe_039.007
der Niederschrift voneinander zu lösen, den Werdegang des Gedichts pwe_039.008
zu erfassen, dem eigentlichen Schöpfungsprozeß nachzuspüren und pwe_039.009
damit oft das Gedicht erst in seinem Sinn zu erhellen. Das Ergebnis ist pwe_039.010
nun aber erst noch editionstechnisch darzustellen. Beissner findet einen pwe_039.011
überzeugenden neuen Weg, das immer synchronische Manuskript diachronisch pwe_039.012
lesbar zu machen: durch eine Numerierung und entsprechende typographische pwe_039.013
Anordnung werden die Etappen und Varianten wort-, wortgruppen-, vers- pwe_039.014
oder versgruppenweise in ihren Entstehungsrelationen übersichtlich. So pwe_039.015
wird diese Hölderlinausgabe zu einem Werk, das nicht nur einen überraschend pwe_039.016
neuen Text bietet, sondern methodisch epochemachend ist. Es ist pwe_039.017
darüber hinaus die schönste Dokumentation der Unzertrennlichkeit von pwe_039.018
ästhetischer Interpretation, historischer Forschung und philologischer Technik pwe_039.019
in der einen Literaturwissenschaft.
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