Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_075.001 Was sind Gattungen? Emil Staiger hat die Frage neu gestellt1 und pwe_075.010 1 pwe_075.040
Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946. pwe_075.001 Was sind Gattungen? Emil Staiger hat die Frage neu gestellt1 und pwe_075.010 1 pwe_075.040
Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0081" n="75"/><lb n="pwe_075.001"/> nach dem „Wesen“ vorzustoßen, bewegen sich diese Gattungspoetiken mit <lb n="pwe_075.002"/> ihren vielseitigen, reichhaltigen Fragestellungen und Beobachtungen vor <lb n="pwe_075.003"/> allem in der Fülle des Konkreten. Trotz der entscheidenden Wendung, <lb n="pwe_075.004"/> ein „Grundverhalten“ zu suchen, kommt es kaum zu einer systematischen <lb n="pwe_075.005"/> Begründung der Typen, ja auch nur zu einer prinzipiellen Klärung der <lb n="pwe_075.006"/> Terminologie. Auf der andern Seite bleibt aber auch, wie <hi rendition="#k">Böckmann</hi> betont, <lb n="pwe_075.007"/> bei der systematischen Disposition die Entfaltung der Gattungen als <lb n="pwe_075.008"/> Literatur<hi rendition="#i">geschichte</hi> vernachlässigt.</p> <lb n="pwe_075.009"/> <p> Was sind Gattungen? <hi rendition="#k">Emil Staiger</hi> hat die Frage neu gestellt<note xml:id="PWE_075_1" place="foot" n="1"><lb n="pwe_075.040"/> Emil Staiger, <hi rendition="#i">Grundbegriffe der Poetik.</hi> Zürich 1946.</note> und <lb n="pwe_075.010"/> mit einer bei der heutigen Begriffsverwirrung willkommenen Entschiedenheit <lb n="pwe_075.011"/> zu lösen gesucht. Die Entscheidung geht dahin, die Gattungsbegriffe <lb n="pwe_075.012"/> Lyrisch, Episch, Dramatisch als fundamentale Stilbezeichnungen zu bestimmen, <lb n="pwe_075.013"/> als „poetische Grundbegriffe“. Damit wird die Gattungspoetik, <lb n="pwe_075.014"/> soweit sie überhaupt als sinnvoll bestehen bleibt, zu nichts anderem als <lb n="pwe_075.015"/> zur Stiltypologie. Es interessiert also zunächst die adjektivische Fassung: <lb n="pwe_075.016"/> „lyrischer“, „epischer“, dramatischer“ Stil. Und dieser Gebrauch ist grundsätzlich <lb n="pwe_075.017"/> vom substantivischen zu scheiden. Denn dieser zweite insinuiert <lb n="pwe_075.018"/> die gefährliche Vorstellung von Klassen, von Fächern, in die wir die Fülle <lb n="pwe_075.019"/> der Einzelexemplare sauber verteilen könnten, wie etwa die Tiere in die <lb n="pwe_075.020"/> festen Tiergattungen. Gerade dies geht aber nicht, wie <hi rendition="#k">Staiger</hi> mit einer <lb n="pwe_075.021"/> Kritik an <hi rendition="#k">Petersens</hi> scharfsinnigem Radschema der vorkommenden Gattungen <lb n="pwe_075.022"/> und Arten zeigt. Es gibt hier alle Übergänge, eine Zuweisung <lb n="pwe_075.023"/> könnte nur nach vielleicht willkürlich bestimmten äußeren Merkmalen <lb n="pwe_075.024"/> erfolgen; und vor allem: mit der „Reinheit“ der Form hätte man nichts <lb n="pwe_075.025"/> gewonnen, denn eine Gattungsform ist nicht ein Muster, das erfüllt sein <lb n="pwe_075.026"/> muß, Gattungsbestimmungen sind wertindifferent. Als <hi rendition="#i">stilistische Grundbegriffe</hi> <lb n="pwe_075.027"/> aber werden die Bezeichnungen sinnvoll; sie können nun verstanden <lb n="pwe_075.028"/> werden als „literaturwissenschaftliche Namen für Möglichkeiten des <lb n="pwe_075.029"/> menschlichen Daseins“, sie erhalten anthropologischen Sinn und erschließen <lb n="pwe_075.030"/> im Einzelwerk neue Zusammenhänge zwischen einzelnen Stilzügen. <hi rendition="#k">Stai- <lb n="pwe_075.031"/> gers</hi> Gattungslehre ist somit eine Weiterbildung und Systematisierung der <lb n="pwe_075.032"/> Befunde, die sein erstes Buch an verschiedenen individuellen Stilen beschrieben <lb n="pwe_075.033"/> hat. Denn diese Gattungsstile erhalten nun ebenfalls ihre temporale <lb n="pwe_075.034"/> Deutung. In glänzenden Charakteristiken wird das Lyrische (sein Zerfließen, <lb n="pwe_075.035"/> sein Stimmungshaftes, Abstandloses, Punktuelles, Grundloses usw.) <lb n="pwe_075.036"/> vor allem an Hand des romantischen Liedes unter der Bestimmung „Erinnerung“ <lb n="pwe_075.037"/> gefaßt, das Epische (Vergegenwärtigung, Feststellung, Distanz, <lb n="pwe_075.038"/> Selbständigkeit der Teile, Tradition und Gemeinschaft) am Beispiel Homers <lb n="pwe_075.039"/> als „Vorstellung“, und das Dramatische als „Spannung“, einer pathetischen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [75/0081]
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nach dem „Wesen“ vorzustoßen, bewegen sich diese Gattungspoetiken mit pwe_075.002
ihren vielseitigen, reichhaltigen Fragestellungen und Beobachtungen vor pwe_075.003
allem in der Fülle des Konkreten. Trotz der entscheidenden Wendung, pwe_075.004
ein „Grundverhalten“ zu suchen, kommt es kaum zu einer systematischen pwe_075.005
Begründung der Typen, ja auch nur zu einer prinzipiellen Klärung der pwe_075.006
Terminologie. Auf der andern Seite bleibt aber auch, wie Böckmann betont, pwe_075.007
bei der systematischen Disposition die Entfaltung der Gattungen als pwe_075.008
Literaturgeschichte vernachlässigt.
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Was sind Gattungen? Emil Staiger hat die Frage neu gestellt 1 und pwe_075.010
mit einer bei der heutigen Begriffsverwirrung willkommenen Entschiedenheit pwe_075.011
zu lösen gesucht. Die Entscheidung geht dahin, die Gattungsbegriffe pwe_075.012
Lyrisch, Episch, Dramatisch als fundamentale Stilbezeichnungen zu bestimmen, pwe_075.013
als „poetische Grundbegriffe“. Damit wird die Gattungspoetik, pwe_075.014
soweit sie überhaupt als sinnvoll bestehen bleibt, zu nichts anderem als pwe_075.015
zur Stiltypologie. Es interessiert also zunächst die adjektivische Fassung: pwe_075.016
„lyrischer“, „epischer“, dramatischer“ Stil. Und dieser Gebrauch ist grundsätzlich pwe_075.017
vom substantivischen zu scheiden. Denn dieser zweite insinuiert pwe_075.018
die gefährliche Vorstellung von Klassen, von Fächern, in die wir die Fülle pwe_075.019
der Einzelexemplare sauber verteilen könnten, wie etwa die Tiere in die pwe_075.020
festen Tiergattungen. Gerade dies geht aber nicht, wie Staiger mit einer pwe_075.021
Kritik an Petersens scharfsinnigem Radschema der vorkommenden Gattungen pwe_075.022
und Arten zeigt. Es gibt hier alle Übergänge, eine Zuweisung pwe_075.023
könnte nur nach vielleicht willkürlich bestimmten äußeren Merkmalen pwe_075.024
erfolgen; und vor allem: mit der „Reinheit“ der Form hätte man nichts pwe_075.025
gewonnen, denn eine Gattungsform ist nicht ein Muster, das erfüllt sein pwe_075.026
muß, Gattungsbestimmungen sind wertindifferent. Als stilistische Grundbegriffe pwe_075.027
aber werden die Bezeichnungen sinnvoll; sie können nun verstanden pwe_075.028
werden als „literaturwissenschaftliche Namen für Möglichkeiten des pwe_075.029
menschlichen Daseins“, sie erhalten anthropologischen Sinn und erschließen pwe_075.030
im Einzelwerk neue Zusammenhänge zwischen einzelnen Stilzügen. Stai- pwe_075.031
gers Gattungslehre ist somit eine Weiterbildung und Systematisierung der pwe_075.032
Befunde, die sein erstes Buch an verschiedenen individuellen Stilen beschrieben pwe_075.033
hat. Denn diese Gattungsstile erhalten nun ebenfalls ihre temporale pwe_075.034
Deutung. In glänzenden Charakteristiken wird das Lyrische (sein Zerfließen, pwe_075.035
sein Stimmungshaftes, Abstandloses, Punktuelles, Grundloses usw.) pwe_075.036
vor allem an Hand des romantischen Liedes unter der Bestimmung „Erinnerung“ pwe_075.037
gefaßt, das Epische (Vergegenwärtigung, Feststellung, Distanz, pwe_075.038
Selbständigkeit der Teile, Tradition und Gemeinschaft) am Beispiel Homers pwe_075.039
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Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946.
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