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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

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verständnisse und Unklarheiten. Manche Botaniker bestreiten
die Existenz des Keimplasma's überhaupt.

Der englische Pflanzen-Physiologe Vines findet die An-
nahme einer besondern "reproductive substance" unnöthig, da
die Fähigkeit der Reproduction eine fundamentale Eigenschaft
des Protoplasma's sei. Wie ein zerbrochner Krystall sich ver-
vollständigt, wenn er in Mutterlauge gelegt wird, ebenso ver-
vollständige sich der Steckling einer Pflanze -- er treibt das,
was ihm fehlt, nämlich Wurzeln. Wie es beim Krystall keiner
besondern "reproductive substance" bedürfe, so auch bei der
Pflanze.

Ich will nicht besonders betonen, dass dieser Vervoll-
ständigungstrieb gar keine allgemeine Erscheinung ist, dass es
Pflanzentheile giebt, die sich nicht als Stecklinge fortpflanzen
lassen u. s. w., ich beschränke mich einfach darauf, daran zu
erinnern, dass die Annahme einer allgemeinen Reproductions-
kraft des Protoplasma's, selbst wenn sie eine Thatsache wäre,
doch sicherlich keine Erklärung ist. Sie wäre eben das,
was erklärt werden soll
!

Wenn wir z. B. wissen, dass Infusorien grosse Substanz-
verluste wieder ersetzen, dass ihr abgeschnittenes Mundfeld mit
sämmtlichen Wimpern und sonstigen feinsten Structuren sich
neu bildet, so beweist uns dies, dass diese Zellen-Organismen
wirklich die allgemeine Reproductionskraft besitzen, welche Vines
dem Pflanzen-Protoplasma zuschreiben möchte. Aber ist damit
auch nur die Spur eines Verständnisses dieser Thatsache gegeben?
Sehen wir nun ein, wie es kommt, dass die kleinsten Theilchen
des Zellkörpers nach dem Substanzverlust sich neu ordnen und
umgestalten, und zwar genau so, wie es nöthig ist, damit wieder
ein typisches Bild der Art zu Stande kommt? Haben wir im
Geringsten eine Ahnung davon, wie und wodurch die übrig-
bleibenden Theilchen des Zellkörpers dazu genöthigt werden,

verständnisse und Unklarheiten. Manche Botaniker bestreiten
die Existenz des Keimplasma’s überhaupt.

Der englische Pflanzen-Physiologe Vines findet die An-
nahme einer besondern „reproductive substance“ unnöthig, da
die Fähigkeit der Reproduction eine fundamentale Eigenschaft
des Protoplasma’s sei. Wie ein zerbrochner Krystall sich ver-
vollständigt, wenn er in Mutterlauge gelegt wird, ebenso ver-
vollständige sich der Steckling einer Pflanze — er treibt das,
was ihm fehlt, nämlich Wurzeln. Wie es beim Krystall keiner
besondern „reproductive substance“ bedürfe, so auch bei der
Pflanze.

Ich will nicht besonders betonen, dass dieser Vervoll-
ständigungstrieb gar keine allgemeine Erscheinung ist, dass es
Pflanzentheile giebt, die sich nicht als Stecklinge fortpflanzen
lassen u. s. w., ich beschränke mich einfach darauf, daran zu
erinnern, dass die Annahme einer allgemeinen Reproductions-
kraft des Protoplasma’s, selbst wenn sie eine Thatsache wäre,
doch sicherlich keine Erklärung ist. Sie wäre eben das,
was erklärt werden soll
!

Wenn wir z. B. wissen, dass Infusorien grosse Substanz-
verluste wieder ersetzen, dass ihr abgeschnittenes Mundfeld mit
sämmtlichen Wimpern und sonstigen feinsten Structuren sich
neu bildet, so beweist uns dies, dass diese Zellen-Organismen
wirklich die allgemeine Reproductionskraft besitzen, welche Vines
dem Pflanzen-Protoplasma zuschreiben möchte. Aber ist damit
auch nur die Spur eines Verständnisses dieser Thatsache gegeben?
Sehen wir nun ein, wie es kommt, dass die kleinsten Theilchen
des Zellkörpers nach dem Substanzverlust sich neu ordnen und
umgestalten, und zwar genau so, wie es nöthig ist, damit wieder
ein typisches Bild der Art zu Stande kommt? Haben wir im
Geringsten eine Ahnung davon, wie und wodurch die übrig-
bleibenden Theilchen des Zellkörpers dazu genöthigt werden,

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[266/0290] verständnisse und Unklarheiten. Manche Botaniker bestreiten die Existenz des Keimplasma’s überhaupt. Der englische Pflanzen-Physiologe Vines findet die An- nahme einer besondern „reproductive substance“ unnöthig, da die Fähigkeit der Reproduction eine fundamentale Eigenschaft des Protoplasma’s sei. Wie ein zerbrochner Krystall sich ver- vollständigt, wenn er in Mutterlauge gelegt wird, ebenso ver- vollständige sich der Steckling einer Pflanze — er treibt das, was ihm fehlt, nämlich Wurzeln. Wie es beim Krystall keiner besondern „reproductive substance“ bedürfe, so auch bei der Pflanze. Ich will nicht besonders betonen, dass dieser Vervoll- ständigungstrieb gar keine allgemeine Erscheinung ist, dass es Pflanzentheile giebt, die sich nicht als Stecklinge fortpflanzen lassen u. s. w., ich beschränke mich einfach darauf, daran zu erinnern, dass die Annahme einer allgemeinen Reproductions- kraft des Protoplasma’s, selbst wenn sie eine Thatsache wäre, doch sicherlich keine Erklärung ist. Sie wäre eben das, was erklärt werden soll! Wenn wir z. B. wissen, dass Infusorien grosse Substanz- verluste wieder ersetzen, dass ihr abgeschnittenes Mundfeld mit sämmtlichen Wimpern und sonstigen feinsten Structuren sich neu bildet, so beweist uns dies, dass diese Zellen-Organismen wirklich die allgemeine Reproductionskraft besitzen, welche Vines dem Pflanzen-Protoplasma zuschreiben möchte. Aber ist damit auch nur die Spur eines Verständnisses dieser Thatsache gegeben? Sehen wir nun ein, wie es kommt, dass die kleinsten Theilchen des Zellkörpers nach dem Substanzverlust sich neu ordnen und umgestalten, und zwar genau so, wie es nöthig ist, damit wieder ein typisches Bild der Art zu Stande kommt? Haben wir im Geringsten eine Ahnung davon, wie und wodurch die übrig- bleibenden Theilchen des Zellkörpers dazu genöthigt werden,

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Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/290>, abgerufen am 22.11.2024.