Diese Auffassung schien dadurch bestätigt zu werden, dass die geschlechtliche Fortpflanzung eine ganz allgemeine Ver- breitung hat, von den niedersten Thier- und Pflanzenformen bis hinauf zu den höchsten, und dass ungeschlechtliche Fort- pflanzung bei höheren Lebensformen ganz fehlt, und auch bei niederen nur abwechslungsweise mit geschlechtlicher vorkommt.
Was wir aber heute über den Vorgang der Befruchtung wissen, berechtigt uns, diese bisherigen Anschauungen für völlig irrthümlich zu halten. Die Befruchtung bedeutet keinesfalls eine Verjüngung oder Erneuerung des Lebens, sie wäre durch- aus nicht nothwendig zur Fortdauer des Lebens; sie ist Nichts als eine Einrichtung, um die Vermischung zweier ver- schiedener Vererbungstendenzen möglich zu machen. Warum eine solche Vermischung von der Natur herbeigeführt und in solcher Ausdehnung angewandt wurde, soll später unter- sucht werden, hier handelt es sich nur darum, festzustellen, dass dem so ist. Die Befruchtung besteht in der Vereinigung der Vererbungssubstanz, also des Keimplasma's zweier Indi- viduen, und alle die verwickelten und mannigfaltigen Erschei- nungen der Differenzirung von zweierlei Arten von Fort- pflanzungszellen, die man als weibliche und männliche zu be- zeichnen gewohnt ist, bis hinauf zur Differenzirung der Indi- viduen selbst zu zweierlei Arten: männlichen und weiblichen, nebst den tausenderlei weiteren Anpassungen und Folgeerschei- nungen dieser Einrichtung haben keinen anderen Grund, als den, die Vereinigung der Vererbungsanlagen zweier Individuen mög- lich zu machen.
Ich habe den Vorgang dieser Keimplasma-Verschmelzung, welcher das Wesen der Befruchtung ausmacht und der in der Regel mit der Verschmelzung zweier Zellkörper verbunden ist, als Amphimixis bezeichnet. Nicht jede Amphimixis ist mit Fortpflanzung verbunden, vielmehr kommt Amphimixis bei allen
Diese Auffassung schien dadurch bestätigt zu werden, dass die geschlechtliche Fortpflanzung eine ganz allgemeine Ver- breitung hat, von den niedersten Thier- und Pflanzenformen bis hinauf zu den höchsten, und dass ungeschlechtliche Fort- pflanzung bei höheren Lebensformen ganz fehlt, und auch bei niederen nur abwechslungsweise mit geschlechtlicher vorkommt.
Was wir aber heute über den Vorgang der Befruchtung wissen, berechtigt uns, diese bisherigen Anschauungen für völlig irrthümlich zu halten. Die Befruchtung bedeutet keinesfalls eine Verjüngung oder Erneuerung des Lebens, sie wäre durch- aus nicht nothwendig zur Fortdauer des Lebens; sie ist Nichts als eine Einrichtung, um die Vermischung zweier ver- schiedener Vererbungstendenzen möglich zu machen. Warum eine solche Vermischung von der Natur herbeigeführt und in solcher Ausdehnung angewandt wurde, soll später unter- sucht werden, hier handelt es sich nur darum, festzustellen, dass dem so ist. Die Befruchtung besteht in der Vereinigung der Vererbungssubstanz, also des Keimplasma’s zweier Indi- viduen, und alle die verwickelten und mannigfaltigen Erschei- nungen der Differenzirung von zweierlei Arten von Fort- pflanzungszellen, die man als weibliche und männliche zu be- zeichnen gewohnt ist, bis hinauf zur Differenzirung der Indi- viduen selbst zu zweierlei Arten: männlichen und weiblichen, nebst den tausenderlei weiteren Anpassungen und Folgeerschei- nungen dieser Einrichtung haben keinen anderen Grund, als den, die Vereinigung der Vererbungsanlagen zweier Individuen mög- lich zu machen.
Ich habe den Vorgang dieser Keimplasma-Verschmelzung, welcher das Wesen der Befruchtung ausmacht und der in der Regel mit der Verschmelzung zweier Zellkörper verbunden ist, als Amphimixis bezeichnet. Nicht jede Amphimixis ist mit Fortpflanzung verbunden, vielmehr kommt Amphimixis bei allen
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Diese Auffassung schien dadurch bestätigt zu werden, dass
die geschlechtliche Fortpflanzung eine ganz allgemeine Ver-
breitung hat, von den niedersten Thier- und Pflanzenformen
bis hinauf zu den höchsten, und dass ungeschlechtliche Fort-
pflanzung bei höheren Lebensformen ganz fehlt, und auch bei
niederen nur abwechslungsweise mit geschlechtlicher vorkommt.
Was wir aber heute über den Vorgang der Befruchtung
wissen, berechtigt uns, diese bisherigen Anschauungen für völlig
irrthümlich zu halten. Die Befruchtung bedeutet keinesfalls
eine Verjüngung oder Erneuerung des Lebens, sie wäre durch-
aus nicht nothwendig zur Fortdauer des Lebens; sie ist Nichts
als eine Einrichtung, um die Vermischung zweier ver-
schiedener Vererbungstendenzen möglich zu machen.
Warum eine solche Vermischung von der Natur herbeigeführt
und in solcher Ausdehnung angewandt wurde, soll später unter-
sucht werden, hier handelt es sich nur darum, festzustellen,
dass dem so ist. Die Befruchtung besteht in der Vereinigung
der Vererbungssubstanz, also des Keimplasma’s zweier Indi-
viduen, und alle die verwickelten und mannigfaltigen Erschei-
nungen der Differenzirung von zweierlei Arten von Fort-
pflanzungszellen, die man als weibliche und männliche zu be-
zeichnen gewohnt ist, bis hinauf zur Differenzirung der Indi-
viduen selbst zu zweierlei Arten: männlichen und weiblichen,
nebst den tausenderlei weiteren Anpassungen und Folgeerschei-
nungen dieser Einrichtung haben keinen anderen Grund, als den,
die Vereinigung der Vererbungsanlagen zweier Individuen mög-
lich zu machen.
Ich habe den Vorgang dieser Keimplasma-Verschmelzung,
welcher das Wesen der Befruchtung ausmacht und der in der
Regel mit der Verschmelzung zweier Zellkörper verbunden ist,
als Amphimixis bezeichnet. Nicht jede Amphimixis ist mit
Fortpflanzung verbunden, vielmehr kommt Amphimixis bei allen
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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/328>, abgerufen am 22.11.2024.
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