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Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

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indem er keinen Zweifel hegt, dass die Verbildung der Zehe
durch den Schuhdruck entstanden und allmälig erblich
geworden ist.

Diese Annahme ist nun aber irrig. Wir besitzen eine
genaue anatomisch-statistische Untersuchung der kleinen
Zehe von W. Pfitzner 1), aus welcher hervorgeht, dass
dieselbe in einem langsamen Rückbildungs-
process begriffen ist, der nicht auf den Schuh-
druck bezogen werden kann
2); sie ist im Begriff,
"sich aus einer dreigliedrigen in eine zweigliedrige Zehe"
zu verwandeln. Unter 47 Füssen der Strassburger Ana-
tomie fand sich 13mal Synostose der zweiten und dritten
Phalanx der kleinen Zehe vor, und Pfitzner konnte diese
Verschmelzung der Gelenke schon bei Kindern unter 7 Jahren,
ja in einzelnen Fällen schon bei Embryonen nachweisen.
Seine Untersuchungen sind nicht etwa zur Lösung der Frage
nach der Vererbung erworbener Eigenschaften und deshalb
mit Voreingenommenheit angestellt, sondern ganz objectiv.
Er berührt diese Frage gar nicht, ja nimmt sogar eine
solche Vererbung als möglich an, indem er zuerst unter-
sucht, ob nicht die Verkrüppelung eine Folge der vererbten
Wirkung des Seitendrucks, und dann, ob nicht vielleicht
"die accumulirende Wirkung der Vererbung" die durch das
Schuhwerk im einzelnen Falle erzeugte sehr schwache Atro-
phie dieser Zehe gesteigert haben könnte. Er verneint

1) W. Pfitzner, "Die kleine Zehe", Archiv f. Anatomie
und Physiologie, 1890, p. 12.
2) Die Gründe, warum dies nicht statthaft ist, möge man
im Original nachlesen, sie liegen hauptsächlich in der Natur
der Abänderung, die derart ist, dass sie durch Seitendruck
nicht entstanden sein kann.

indem er keinen Zweifel hegt, dass die Verbildung der Zehe
durch den Schuhdruck entstanden und allmälig erblich
geworden ist.

Diese Annahme ist nun aber irrig. Wir besitzen eine
genaue anatomisch-statistische Untersuchung der kleinen
Zehe von W. Pfitzner 1), aus welcher hervorgeht, dass
dieselbe in einem langsamen Rückbildungs-
process begriffen ist, der nicht auf den Schuh-
druck bezogen werden kann
2); sie ist im Begriff,
„sich aus einer dreigliedrigen in eine zweigliedrige Zehe“
zu verwandeln. Unter 47 Füssen der Strassburger Ana-
tomie fand sich 13mal Synostose der zweiten und dritten
Phalanx der kleinen Zehe vor, und Pfitzner konnte diese
Verschmelzung der Gelenke schon bei Kindern unter 7 Jahren,
ja in einzelnen Fällen schon bei Embryonen nachweisen.
Seine Untersuchungen sind nicht etwa zur Lösung der Frage
nach der Vererbung erworbener Eigenschaften und deshalb
mit Voreingenommenheit angestellt, sondern ganz objectiv.
Er berührt diese Frage gar nicht, ja nimmt sogar eine
solche Vererbung als möglich an, indem er zuerst unter-
sucht, ob nicht die Verkrüppelung eine Folge der vererbten
Wirkung des Seitendrucks, und dann, ob nicht vielleicht
„die accumulirende Wirkung der Vererbung“ die durch das
Schuhwerk im einzelnen Falle erzeugte sehr schwache Atro-
phie dieser Zehe gesteigert haben könnte. Er verneint

1) W. Pfitzner, „Die kleine Zehe“, Archiv f. Anatomie
und Physiologie, 1890, p. 12.
2) Die Gründe, warum dies nicht statthaft ist, möge man
im Original nachlesen, sie liegen hauptsächlich in der Natur
der Abänderung, die derart ist, dass sie durch Seitendruck
nicht entstanden sein kann.
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[8/0020] indem er keinen Zweifel hegt, dass die Verbildung der Zehe durch den Schuhdruck entstanden und allmälig erblich geworden ist. Diese Annahme ist nun aber irrig. Wir besitzen eine genaue anatomisch-statistische Untersuchung der kleinen Zehe von W. Pfitzner 1), aus welcher hervorgeht, dass dieselbe in einem langsamen Rückbildungs- process begriffen ist, der nicht auf den Schuh- druck bezogen werden kann 2); sie ist im Begriff, „sich aus einer dreigliedrigen in eine zweigliedrige Zehe“ zu verwandeln. Unter 47 Füssen der Strassburger Ana- tomie fand sich 13mal Synostose der zweiten und dritten Phalanx der kleinen Zehe vor, und Pfitzner konnte diese Verschmelzung der Gelenke schon bei Kindern unter 7 Jahren, ja in einzelnen Fällen schon bei Embryonen nachweisen. Seine Untersuchungen sind nicht etwa zur Lösung der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften und deshalb mit Voreingenommenheit angestellt, sondern ganz objectiv. Er berührt diese Frage gar nicht, ja nimmt sogar eine solche Vererbung als möglich an, indem er zuerst unter- sucht, ob nicht die Verkrüppelung eine Folge der vererbten Wirkung des Seitendrucks, und dann, ob nicht vielleicht „die accumulirende Wirkung der Vererbung“ die durch das Schuhwerk im einzelnen Falle erzeugte sehr schwache Atro- phie dieser Zehe gesteigert haben könnte. Er verneint 1) W. Pfitzner, „Die kleine Zehe“, Archiv f. Anatomie und Physiologie, 1890, p. 12. 2) Die Gründe, warum dies nicht statthaft ist, möge man im Original nachlesen, sie liegen hauptsächlich in der Natur der Abänderung, die derart ist, dass sie durch Seitendruck nicht entstanden sein kann.

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Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/20>, abgerufen am 27.04.2024.