er übersprang Kameraden, weil er kriechen konnte, erhielt Decorationen als Pflaster für hingenommene Beleidigungen und endlich das Commando der Brigg als Belohnung für Speichel- leckerei.
Sein Ziel war erreicht; er streifte die Maske ab, warf seinen bespuckten Rock hinter sich und zeigte sein wahres Gesicht, das nicht erröthen konnte, weil es keine Scham mehr kannte. Seine Kameraden von gestern, heute seine Untergebenen, wurden seine Opfer. Sie hatten seine Natur erkannt, es bis dahin unter ihrer Würde gehalten, ihm die Hand zu reichen, an Bord ihn unter Quarantäne gestellt und seinen Namen nur mit einem verächtlichen Achselzucken genannt. Er hatte alles gefühlt, aber mit lächelndem Munde auf seine Zeit gewartet; jetzt endlich war sie gekommen und fortan wurde Rache die Triebfeder aller seiner Handlungen.
Die Brigg hatte zwei Jahre auf der Station in West- indien gelegen, und diese ganze Zeit war für die Besatzung nur ein hartes Gefängniß, eine ununterbrochene geistige und körper- liche Quälerei gewesen. Der Kapitän wohnte am Lande, aber übte von dort seine Gewalt über die Untergebenen aus; er hatte an Bord seine Spione, die ihm alles hinterbrachten. Fast täglich erschienen Befehle, die die härteste Tyrannei übten, aber befolgt werden mußten, weil sie die dienstlichen Schranken inne hielten, und so wurden hundert Menschen durch einen unsichtbaren Ver- folger allmälig zur Verzweiflung getrieben. Die Brigg war 11/2 Meilen vom Ufer verankert, Niemand erhielt Urlaub und nur Einzelne kamen an's Land, wenn der Dienst es durchaus erforderte. Tödtlicher Haß gegen den Peiniger erwuchs in den Herzen der Officiere und Mannschaften; er wurde nicht aus- gesprochen, aber desto glühender flammte er in der verschlossenen Brust und drohte sie zu sprengen.
Endlich erscheint der Tag der Heimkehr und der Kapitän kommt mit heiterer Miene an Bord. Seine Mission ist beendet,
Werner
er überſprang Kameraden, weil er kriechen konnte, erhielt Decorationen als Pflaſter für hingenommene Beleidigungen und endlich das Commando der Brigg als Belohnung für Speichel- leckerei.
Sein Ziel war erreicht; er ſtreifte die Maske ab, warf ſeinen beſpuckten Rock hinter ſich und zeigte ſein wahres Geſicht, das nicht erröthen konnte, weil es keine Scham mehr kannte. Seine Kameraden von geſtern, heute ſeine Untergebenen, wurden ſeine Opfer. Sie hatten ſeine Natur erkannt, es bis dahin unter ihrer Würde gehalten, ihm die Hand zu reichen, an Bord ihn unter Quarantäne geſtellt und ſeinen Namen nur mit einem verächtlichen Achſelzucken genannt. Er hatte alles gefühlt, aber mit lächelndem Munde auf ſeine Zeit gewartet; jetzt endlich war ſie gekommen und fortan wurde Rache die Triebfeder aller ſeiner Handlungen.
Die Brigg hatte zwei Jahre auf der Station in Weſt- indien gelegen, und dieſe ganze Zeit war für die Beſatzung nur ein hartes Gefängniß, eine ununterbrochene geiſtige und körper- liche Quälerei geweſen. Der Kapitän wohnte am Lande, aber übte von dort ſeine Gewalt über die Untergebenen aus; er hatte an Bord ſeine Spione, die ihm alles hinterbrachten. Faſt täglich erſchienen Befehle, die die härteſte Tyrannei übten, aber befolgt werden mußten, weil ſie die dienſtlichen Schranken inne hielten, und ſo wurden hundert Menſchen durch einen unſichtbaren Ver- folger allmälig zur Verzweiflung getrieben. Die Brigg war 1½ Meilen vom Ufer verankert, Niemand erhielt Urlaub und nur Einzelne kamen an’s Land, wenn der Dienſt es durchaus erforderte. Tödtlicher Haß gegen den Peiniger erwuchs in den Herzen der Officiere und Mannſchaften; er wurde nicht aus- geſprochen, aber deſto glühender flammte er in der verſchloſſenen Bruſt und drohte ſie zu ſprengen.
Endlich erſcheint der Tag der Heimkehr und der Kapitän kommt mit heiterer Miene an Bord. Seine Miſſion iſt beendet,
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Werner
er überſprang Kameraden, weil er kriechen konnte, erhielt
Decorationen als Pflaſter für hingenommene Beleidigungen und
endlich das Commando der Brigg als Belohnung für Speichel-
leckerei.
Sein Ziel war erreicht; er ſtreifte die Maske ab, warf
ſeinen beſpuckten Rock hinter ſich und zeigte ſein wahres Geſicht,
das nicht erröthen konnte, weil es keine Scham mehr kannte.
Seine Kameraden von geſtern, heute ſeine Untergebenen, wurden
ſeine Opfer. Sie hatten ſeine Natur erkannt, es bis dahin
unter ihrer Würde gehalten, ihm die Hand zu reichen, an Bord
ihn unter Quarantäne geſtellt und ſeinen Namen nur mit einem
verächtlichen Achſelzucken genannt. Er hatte alles gefühlt, aber
mit lächelndem Munde auf ſeine Zeit gewartet; jetzt endlich war
ſie gekommen und fortan wurde Rache die Triebfeder aller
ſeiner Handlungen.
Die Brigg hatte zwei Jahre auf der Station in Weſt-
indien gelegen, und dieſe ganze Zeit war für die Beſatzung nur
ein hartes Gefängniß, eine ununterbrochene geiſtige und körper-
liche Quälerei geweſen. Der Kapitän wohnte am Lande, aber
übte von dort ſeine Gewalt über die Untergebenen aus; er hatte
an Bord ſeine Spione, die ihm alles hinterbrachten. Faſt täglich
erſchienen Befehle, die die härteſte Tyrannei übten, aber befolgt
werden mußten, weil ſie die dienſtlichen Schranken inne hielten,
und ſo wurden hundert Menſchen durch einen unſichtbaren Ver-
folger allmälig zur Verzweiflung getrieben. Die Brigg war
1½ Meilen vom Ufer verankert, Niemand erhielt Urlaub und
nur Einzelne kamen an’s Land, wenn der Dienſt es durchaus
erforderte. Tödtlicher Haß gegen den Peiniger erwuchs in den
Herzen der Officiere und Mannſchaften; er wurde nicht aus-
geſprochen, aber deſto glühender flammte er in der verſchloſſenen
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Werner, Reinhold von: Erinnerungen und Bilder aus dem Seeleben. Berlin, 1880, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/werner_seeleben_1880/268>, abgerufen am 22.11.2024.
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