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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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zeigt sich auf beiden Seiten gleich und gut erhalten. Durch den
Augenspiegel wird links glaucomatöse Excavation der Pap. optiea
nachgewiesen.

Sie versteht absolut nichts, was zu ihr gesprochen wird:
doch muss man sich dabei in Acht nehmen, nichts durch Gesten
zu verrathen. Angerufen, antwortet sie sowohl auf ihren, als auch
auf jeden fremden Namen "ja" und dreht sich um. Sie macht
dem oberflächlichen Betrachter den Eindruck der Verwirrtheit,
denn nicht nur ihre Antworten sind dem Sinne der Frage nicht
entsprechend, sondern auch die gesprochenen Sätze sind oft in
sich falsch, indem unsinnige oder entstellte Wörter darin enthalten
sind. Jedoch ist der Sinn eines Satzes, den man überhaupt ver-
steht, immer vernünftig; es ist keine Spur von Ideenflucht dabei;
sie benimmt sich auch gesetzt und anständig, während eine Ver-
wirrtheit dieses Grades mit tiefer psychischer Verkommenheit ein-
hergehen müsste. Sehr oft, besonders im Affecte, gelingen ihr
ganze Sätze völlig richtig. Vorgehaltene Gegenstände benennt sie
oft ganz richtig, z. B. einen Hut, einen Bleistift, die Uhr, einen
Thaler, ein 21/2 Groschenstück, ein Taschentuch etc., andere Male
fehlen ihr dieselben Benennungen. Tadellos richtige Sätze, auch
mit dem richtigen Sinne verknüpft, sind: Heut' hat mir's sehr gut
geschmeckt. Ich hoffe, dass ich wieder gesund werde. Der Herr
Doctor hat mir 2 Groschen geschenkt, und viele andere. Sie
stellt ihren Sohn, der sie gerade besucht, dem Arzte vor und
sagt: Das ist mein Richard, mein schmucker Sohn, nicht wahr,
ein sehr schmucker Sohn. Des Morgens und des Abends sagt sie
ihre Gebete tadellos her, ebenso wenn man sie eine Zeit lang
inquirirt hat, im Ganzen etwa 14 Verse. Den Tag über im Ver-
kehre mit den Kranken, wo sie sich gehen lässt, benennt sie die
meisten Gegenstände richtig, so dass überhaupt anzunehmen ist,
dass ihr eventuell ein unbeschränkter Wortschatz zu Gebote stehe.
Das Tyrolerlied (Wenn ich zu meinem Kinde geh'), das zufällig
von einer anderen Kranken gesungen wurde, singt sie richtig
nach, aber ohne Text.

Die Kranke kann also eventuell Alles richtig sprechen, aber
sie versteht absolut nichts.

Um dies zu constatiren, ist die grösste Vorsicht, und eine
strenge Ueberwachung der eigenen Blicke und Geberden noth-
wendig. So zeigt sie, wenn man bei der Visite an ihr Bett tritt
und sie auffordert, die Zunge zu zeigen, auch richtig die Zunge,

zeigt sich auf beiden Seiten gleich und gut erhalten. Durch den
Augenspiegel wird links glaucomatöse Excavation der Pap. optiea
nachgewiesen.

Sie versteht absolut nichts, was zu ihr gesprochen wird:
doch muss man sich dabei in Acht nehmen, nichts durch Gesten
zu verrathen. Angerufen, antwortet sie sowohl auf ihren, als auch
auf jeden fremden Namen „ja‟ und dreht sich um. Sie macht
dem oberflächlichen Betrachter den Eindruck der Verwirrtheit,
denn nicht nur ihre Antworten sind dem Sinne der Frage nicht
entsprechend, sondern auch die gesprochenen Sätze sind oft in
sich falsch, indem unsinnige oder entstellte Wörter darin enthalten
sind. Jedoch ist der Sinn eines Satzes, den man überhaupt ver-
steht, immer vernünftig; es ist keine Spur von Ideenflucht dabei;
sie benimmt sich auch gesetzt und anständig, während eine Ver-
wirrtheit dieses Grades mit tiefer psychischer Verkommenheit ein-
hergehen müsste. Sehr oft, besonders im Affecte, gelingen ihr
ganze Sätze völlig richtig. Vorgehaltene Gegenstände benennt sie
oft ganz richtig, z. B. einen Hut, einen Bleistift, die Uhr, einen
Thaler, ein 2½ Groschenstück, ein Taschentuch etc., andere Male
fehlen ihr dieselben Benennungen. Tadellos richtige Sätze, auch
mit dem richtigen Sinne verknüpft, sind: Heut’ hat mir’s sehr gut
geschmeckt. Ich hoffe, dass ich wieder gesund werde. Der Herr
Doctor hat mir 2 Groschen geschenkt, und viele andere. Sie
stellt ihren Sohn, der sie gerade besucht, dem Arzte vor und
sagt: Das ist mein Richard, mein schmucker Sohn, nicht wahr,
ein sehr schmucker Sohn. Des Morgens und des Abends sagt sie
ihre Gebete tadellos her, ebenso wenn man sie eine Zeit lang
inquirirt hat, im Ganzen etwa 14 Verse. Den Tag über im Ver-
kehre mit den Kranken, wo sie sich gehen lässt, benennt sie die
meisten Gegenstände richtig, so dass überhaupt anzunehmen ist,
dass ihr eventuell ein unbeschränkter Wortschatz zu Gebote stehe.
Das Tyrolerlied (Wenn ich zu meinem Kinde geh’), das zufällig
von einer anderen Kranken gesungen wurde, singt sie richtig
nach, aber ohne Text.

Die Kranke kann also eventuell Alles richtig sprechen, aber
sie versteht absolut nichts.

Um dies zu constatiren, ist die grösste Vorsicht, und eine
strenge Ueberwachung der eigenen Blicke und Geberden noth-
wendig. So zeigt sie, wenn man bei der Visite an ihr Bett tritt
und sie auffordert, die Zunge zu zeigen, auch richtig die Zunge,

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[40/0044] zeigt sich auf beiden Seiten gleich und gut erhalten. Durch den Augenspiegel wird links glaucomatöse Excavation der Pap. optiea nachgewiesen. Sie versteht absolut nichts, was zu ihr gesprochen wird: doch muss man sich dabei in Acht nehmen, nichts durch Gesten zu verrathen. Angerufen, antwortet sie sowohl auf ihren, als auch auf jeden fremden Namen „ja‟ und dreht sich um. Sie macht dem oberflächlichen Betrachter den Eindruck der Verwirrtheit, denn nicht nur ihre Antworten sind dem Sinne der Frage nicht entsprechend, sondern auch die gesprochenen Sätze sind oft in sich falsch, indem unsinnige oder entstellte Wörter darin enthalten sind. Jedoch ist der Sinn eines Satzes, den man überhaupt ver- steht, immer vernünftig; es ist keine Spur von Ideenflucht dabei; sie benimmt sich auch gesetzt und anständig, während eine Ver- wirrtheit dieses Grades mit tiefer psychischer Verkommenheit ein- hergehen müsste. Sehr oft, besonders im Affecte, gelingen ihr ganze Sätze völlig richtig. Vorgehaltene Gegenstände benennt sie oft ganz richtig, z. B. einen Hut, einen Bleistift, die Uhr, einen Thaler, ein 2½ Groschenstück, ein Taschentuch etc., andere Male fehlen ihr dieselben Benennungen. Tadellos richtige Sätze, auch mit dem richtigen Sinne verknüpft, sind: Heut’ hat mir’s sehr gut geschmeckt. Ich hoffe, dass ich wieder gesund werde. Der Herr Doctor hat mir 2 Groschen geschenkt, und viele andere. Sie stellt ihren Sohn, der sie gerade besucht, dem Arzte vor und sagt: Das ist mein Richard, mein schmucker Sohn, nicht wahr, ein sehr schmucker Sohn. Des Morgens und des Abends sagt sie ihre Gebete tadellos her, ebenso wenn man sie eine Zeit lang inquirirt hat, im Ganzen etwa 14 Verse. Den Tag über im Ver- kehre mit den Kranken, wo sie sich gehen lässt, benennt sie die meisten Gegenstände richtig, so dass überhaupt anzunehmen ist, dass ihr eventuell ein unbeschränkter Wortschatz zu Gebote stehe. Das Tyrolerlied (Wenn ich zu meinem Kinde geh’), das zufällig von einer anderen Kranken gesungen wurde, singt sie richtig nach, aber ohne Text. Die Kranke kann also eventuell Alles richtig sprechen, aber sie versteht absolut nichts. Um dies zu constatiren, ist die grösste Vorsicht, und eine strenge Ueberwachung der eigenen Blicke und Geberden noth- wendig. So zeigt sie, wenn man bei der Visite an ihr Bett tritt und sie auffordert, die Zunge zu zeigen, auch richtig die Zunge,

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/44>, abgerufen am 21.11.2024.