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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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aber nur, indem sie den Sinn der Frage erräth und das Benehmen
der andern Kranken nachahmt. Denn richtet man als erstes die
Aufforderung an sie, sie solle die Augen schliessen, so zeigt sie
die Zunge. Giebt man ihr weitere Aufträge, ohne begleitende
Gesten, z. B. sie solle das Glas vom Stuhle nehmen, so geräth
sie in die grösste Verlegenheit, streckt versuchsweise die Zunge
heraus, schliesst die Augen, zeigt die Zähne etc., kurz was sie
bei den andern Kranken öfters zu sehen Gelegenheit hatte. Dabei
spricht sie: Was soll ich denn noch zeigen, oder: was soll ich
denn noch schmieren, etc. Was nützt denn das, wenn ich es nicht
höre! Sie fängt endlich an zu weinen und bricht in den ohne
Anstoss gesprochenen Ausruf aus: Ob ich noch einmal wieder
gesund werde? Allmählich lässt sie sich beruhigen dadurch, dass
man es ihr eindringlich -- natürlich durch Gesten -- bejaht.

Sie kennt den Gebrauch aller Gegenstände, setzt sich die
Brille richtig auf etc. An den Tisch gesetzt, um zu schreiben,
nimmt sie den verkehrt gereichten Bleistift in die Hand, sieht sich
ihn an, dreht ihn dann um, und fasst ihn richtig, schreibt aber
nur Grund- und Haarstriche. Auch die Feder wird ihr verkehrt
in die Hand gegeben; sie dreht sie um, taucht richtig in das
Tintenfass und giebt dann der Stahlfeder die ganz richtige Haltung,
aber ohne besseres Resultat. Nachdem einige Zeilen frisch ge-
schrieben worden sind, wird ihr die nasse Schrift hingebreitet und
ihr das Sandfass in die Hand gegeben. Sie sieht den Arzt fragend
an: Soll ich schüt? Auf die Bejahung schüttet sie Sand darauf
und stellt das Sandfass weg, falltet dann den Bogen vorschrifts-
mässig und schüttet das Ueberflüssige wieder in die Sandbüchse
zurück.

Nach einem gelungenen Versuche, dem Arzte etwas ihr
wichtig Scheinendes mitzutheilen, sieht sie ihn an und sagt: Hören
Sie das? und freut sich, da sie eine bejahende Geste sieht.

Es besteht vollkommene Alexie, auch Zahlen werden nicht
richtig verstanden, obwohl sie dieselben beim Sprechen oft richtig
gebraucht.

Bei gutem Allgemeinbefinden besserte sich der Zustand rasch.
Am 15. März 1874, wo ich sie einigen Collegen vorstellte, ver-
stand sie schon manches, was ihr öfters eindringlich gesagt wurde,
sie hörte richtig auf ihren Namen und ignorirte Anrufe mit frem-
dem Namen. Jedoch war das Gesammtbild immer noch ein
typisches: sie gebrauchte spontan sehr viele Worte richtig, da-

aber nur, indem sie den Sinn der Frage erräth und das Benehmen
der andern Kranken nachahmt. Denn richtet man als erstes die
Aufforderung an sie, sie solle die Augen schliessen, so zeigt sie
die Zunge. Giebt man ihr weitere Aufträge, ohne begleitende
Gesten, z. B. sie solle das Glas vom Stuhle nehmen, so geräth
sie in die grösste Verlegenheit, streckt versuchsweise die Zunge
heraus, schliesst die Augen, zeigt die Zähne etc., kurz was sie
bei den andern Kranken öfters zu sehen Gelegenheit hatte. Dabei
spricht sie: Was soll ich denn noch zeigen, oder: was soll ich
denn noch schmieren, etc. Was nützt denn das, wenn ich es nicht
höre! Sie fängt endlich an zu weinen und bricht in den ohne
Anstoss gesprochenen Ausruf aus: Ob ich noch einmal wieder
gesund werde? Allmählich lässt sie sich beruhigen dadurch, dass
man es ihr eindringlich — natürlich durch Gesten — bejaht.

Sie kennt den Gebrauch aller Gegenstände, setzt sich die
Brille richtig auf etc. An den Tisch gesetzt, um zu schreiben,
nimmt sie den verkehrt gereichten Bleistift in die Hand, sieht sich
ihn an, dreht ihn dann um, und fasst ihn richtig, schreibt aber
nur Grund- und Haarstriche. Auch die Feder wird ihr verkehrt
in die Hand gegeben; sie dreht sie um, taucht richtig in das
Tintenfass und giebt dann der Stahlfeder die ganz richtige Haltung,
aber ohne besseres Resultat. Nachdem einige Zeilen frisch ge-
schrieben worden sind, wird ihr die nasse Schrift hingebreitet und
ihr das Sandfass in die Hand gegeben. Sie sieht den Arzt fragend
an: Soll ich schüt? Auf die Bejahung schüttet sie Sand darauf
und stellt das Sandfass weg, falltet dann den Bogen vorschrifts-
mässig und schüttet das Ueberflüssige wieder in die Sandbüchse
zurück.

Nach einem gelungenen Versuche, dem Arzte etwas ihr
wichtig Scheinendes mitzutheilen, sieht sie ihn an und sagt: Hören
Sie das? und freut sich, da sie eine bejahende Geste sieht.

Es besteht vollkommene Alexie, auch Zahlen werden nicht
richtig verstanden, obwohl sie dieselben beim Sprechen oft richtig
gebraucht.

Bei gutem Allgemeinbefinden besserte sich der Zustand rasch.
Am 15. März 1874, wo ich sie einigen Collegen vorstellte, ver-
stand sie schon manches, was ihr öfters eindringlich gesagt wurde,
sie hörte richtig auf ihren Namen und ignorirte Anrufe mit frem-
dem Namen. Jedoch war das Gesammtbild immer noch ein
typisches: sie gebrauchte spontan sehr viele Worte richtig, da-

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[41/0045] aber nur, indem sie den Sinn der Frage erräth und das Benehmen der andern Kranken nachahmt. Denn richtet man als erstes die Aufforderung an sie, sie solle die Augen schliessen, so zeigt sie die Zunge. Giebt man ihr weitere Aufträge, ohne begleitende Gesten, z. B. sie solle das Glas vom Stuhle nehmen, so geräth sie in die grösste Verlegenheit, streckt versuchsweise die Zunge heraus, schliesst die Augen, zeigt die Zähne etc., kurz was sie bei den andern Kranken öfters zu sehen Gelegenheit hatte. Dabei spricht sie: Was soll ich denn noch zeigen, oder: was soll ich denn noch schmieren, etc. Was nützt denn das, wenn ich es nicht höre! Sie fängt endlich an zu weinen und bricht in den ohne Anstoss gesprochenen Ausruf aus: Ob ich noch einmal wieder gesund werde? Allmählich lässt sie sich beruhigen dadurch, dass man es ihr eindringlich — natürlich durch Gesten — bejaht. Sie kennt den Gebrauch aller Gegenstände, setzt sich die Brille richtig auf etc. An den Tisch gesetzt, um zu schreiben, nimmt sie den verkehrt gereichten Bleistift in die Hand, sieht sich ihn an, dreht ihn dann um, und fasst ihn richtig, schreibt aber nur Grund- und Haarstriche. Auch die Feder wird ihr verkehrt in die Hand gegeben; sie dreht sie um, taucht richtig in das Tintenfass und giebt dann der Stahlfeder die ganz richtige Haltung, aber ohne besseres Resultat. Nachdem einige Zeilen frisch ge- schrieben worden sind, wird ihr die nasse Schrift hingebreitet und ihr das Sandfass in die Hand gegeben. Sie sieht den Arzt fragend an: Soll ich schüt? Auf die Bejahung schüttet sie Sand darauf und stellt das Sandfass weg, falltet dann den Bogen vorschrifts- mässig und schüttet das Ueberflüssige wieder in die Sandbüchse zurück. Nach einem gelungenen Versuche, dem Arzte etwas ihr wichtig Scheinendes mitzutheilen, sieht sie ihn an und sagt: Hören Sie das? und freut sich, da sie eine bejahende Geste sieht. Es besteht vollkommene Alexie, auch Zahlen werden nicht richtig verstanden, obwohl sie dieselben beim Sprechen oft richtig gebraucht. Bei gutem Allgemeinbefinden besserte sich der Zustand rasch. Am 15. März 1874, wo ich sie einigen Collegen vorstellte, ver- stand sie schon manches, was ihr öfters eindringlich gesagt wurde, sie hörte richtig auf ihren Namen und ignorirte Anrufe mit frem- dem Namen. Jedoch war das Gesammtbild immer noch ein typisches: sie gebrauchte spontan sehr viele Worte richtig, da-

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/45>, abgerufen am 21.11.2024.