Fr. Freund, nichts ist schwerer und will- kührlicher, als die Genealogie von den Trie- ben der menschlichen Seele. Jch weis, wel- che in ihr liegen, aber welche die Natur ge- pflanzt hat, und welche aus diesen aufge- wachsen sind, das ist mir völlig unbekannt: ich denke aber, daß zu allen, was in der Seele ist, die Natur eine Anlage mitgetheilt haben muß. So viel weis ich auch, welche unter diesen Trieben die zu allen Zeiten, un- ter allen Völkern, unter allen Menschen all- gemeinen gewesen sind; diese, schließe ich, müssen ihm eben so wesentlich als Augen, Nasen, Ohren seyn; wie aber nie zwey Na- sen, zwey Augen einander völlig gleich sehn, so hat der Neid, die Vorzugssucht bey ver- schiedenen Nationen, bey verschiedenen Men- schen, in verschiedenen Ständen der Mensch- heit und der Gesellschaft eine verschiedene Mi- ne: die Grundzüge aber sind bey allem eins. -- Diese Allgemeinheit derselben leuchtet am drollichsten bey denen hervor, die das Schick- sal in eine solche Lage sezte, daß sie nicht herrschen, oder mit ihren Mitbrüdern um Sklaverey, Länder und Völker die Lanze bre- chen konnten. Um bey der allgemeinen Thä-
Fr. Freund, nichts iſt ſchwerer und will- kuͤhrlicher, als die Genealogie von den Trie- ben der menſchlichen Seele. Jch weis, wel- che in ihr liegen, aber welche die Natur ge- pflanzt hat, und welche aus dieſen aufge- wachſen ſind, das iſt mir voͤllig unbekannt: ich denke aber, daß zu allen, was in der Seele iſt, die Natur eine Anlage mitgetheilt haben muß. So viel weis ich auch, welche unter dieſen Trieben die zu allen Zeiten, un- ter allen Voͤlkern, unter allen Menſchen all- gemeinen geweſen ſind; dieſe, ſchließe ich, muͤſſen ihm eben ſo weſentlich als Augen, Naſen, Ohren ſeyn; wie aber nie zwey Na- ſen, zwey Augen einander voͤllig gleich ſehn, ſo hat der Neid, die Vorzugsſucht bey ver- ſchiedenen Nationen, bey verſchiedenen Men- ſchen, in verſchiedenen Staͤnden der Menſch- heit und der Geſellſchaft eine verſchiedene Mi- ne: die Grundzuͤge aber ſind bey allem eins. — Dieſe Allgemeinheit derſelben leuchtet am drollichſten bey denen hervor, die das Schick- ſal in eine ſolche Lage ſezte, daß ſie nicht herrſchen, oder mit ihren Mitbruͤdern um Sklaverey, Laͤnder und Voͤlker die Lanze bre- chen konnten. Um bey der allgemeinen Thaͤ-
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Fr. Freund, nichts iſt ſchwerer und will-
kuͤhrlicher, als die Genealogie von den Trie-
ben der menſchlichen Seele. Jch weis, wel-
che in ihr liegen, aber welche die Natur ge-
pflanzt hat, und welche aus dieſen aufge-
wachſen ſind, das iſt mir voͤllig unbekannt:
ich denke aber, daß zu allen, was in der
Seele iſt, die Natur eine Anlage mitgetheilt
haben muß. So viel weis ich auch, welche
unter dieſen Trieben die zu allen Zeiten, un-
ter allen Voͤlkern, unter allen Menſchen all-
gemeinen geweſen ſind; dieſe, ſchließe ich,
muͤſſen ihm eben ſo weſentlich als Augen,
Naſen, Ohren ſeyn; wie aber nie zwey Na-
ſen, zwey Augen einander voͤllig gleich ſehn,
ſo hat der Neid, die Vorzugsſucht bey ver-
ſchiedenen Nationen, bey verſchiedenen Men-
ſchen, in verſchiedenen Staͤnden der Menſch-
heit und der Geſellſchaft eine verſchiedene Mi-
ne: die Grundzuͤge aber ſind bey allem eins. —
Dieſe Allgemeinheit derſelben leuchtet am
drollichſten bey denen hervor, die das Schick-
ſal in eine ſolche Lage ſezte, daß ſie nicht
herrſchen, oder mit ihren Mitbruͤdern um
Sklaverey, Laͤnder und Voͤlker die Lanze bre-
chen konnten. Um bey der allgemeinen Thaͤ-
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Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor01_1776/232>, abgerufen am 16.02.2025.
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