Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 1. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite

haben: die wir gezwungen haben, Betrieger
zu werden, weil wir ihnen alle Mittel ab-
schneiden, ehrlich sich zu erhalten, weil wir
sie zu einer Geldquelle bestimmen, aus wel-
cher jedermann schöpfen will, und verlangen,
daß sie nie versiegen soll. --

Siehst du, Brüderchen? antwortete ihm
Medardus, das ist immer so gewesen. Die
Christen, die sich über alle Völker des Erdbo-
dens, über die weisesten Griechen und Rö-
mer erhoben haben, weil diese kein Wort von
der Nächstenliebe sagen -- die barmherzigen,
sanftmüthigen Christen, die es bis auf diese
Stunde den Heiden vorwerfen, daß sie ihren
Feinden nicht, wie Theaterhelden, großmü-
thig vergaben, sondern Beleidigungen auf
der Stelle ahndeten -- diese Christen haben
von jeher es für ihre heiligste Pflicht gehal-
ten, die armen Hebräer zu peinigen, zu quä-
len, auszusaugen, und noch izt, in unserm
lichthellen Jahrhunderte sieht es ein großer
Theil als eine Wohlthat an, diesem irrenden
Volke menschlich zu begegnen. --

Die Nation hat sich freilich selbst unter
die Würde der Menschheit herabgesezt --

haben: die wir gezwungen haben, Betrieger
zu werden, weil wir ihnen alle Mittel ab-
ſchneiden, ehrlich ſich zu erhalten, weil wir
ſie zu einer Geldquelle beſtimmen, aus wel-
cher jedermann ſchoͤpfen will, und verlangen,
daß ſie nie verſiegen ſoll. —

Siehſt du, Bruͤderchen? antwortete ihm
Medardus, das iſt immer ſo geweſen. Die
Chriſten, die ſich uͤber alle Voͤlker des Erdbo-
dens, uͤber die weiſeſten Griechen und Roͤ-
mer erhoben haben, weil dieſe kein Wort von
der Naͤchſtenliebe ſagen — die barmherzigen,
ſanftmuͤthigen Chriſten, die es bis auf dieſe
Stunde den Heiden vorwerfen, daß ſie ihren
Feinden nicht, wie Theaterhelden, großmuͤ-
thig vergaben, ſondern Beleidigungen auf
der Stelle ahndeten — dieſe Chriſten haben
von jeher es fuͤr ihre heiligſte Pflicht gehal-
ten, die armen Hebraͤer zu peinigen, zu quaͤ-
len, auszuſaugen, und noch izt, in unſerm
lichthellen Jahrhunderte ſieht es ein großer
Theil als eine Wohlthat an, dieſem irrenden
Volke menſchlich zu begegnen. —

Die Nation hat ſich freilich ſelbſt unter
die Wuͤrde der Menſchheit herabgeſezt —

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0097" n="77"/>
haben: die wir gezwungen haben, Betrieger<lb/>
zu werden, weil wir ihnen alle Mittel ab-<lb/>
&#x017F;chneiden, ehrlich &#x017F;ich zu erhalten, weil wir<lb/>
&#x017F;ie zu einer Geldquelle be&#x017F;timmen, aus wel-<lb/>
cher jedermann &#x017F;cho&#x0364;pfen will, und verlangen,<lb/>
daß &#x017F;ie nie ver&#x017F;iegen &#x017F;oll. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Sieh&#x017F;t du, Bru&#x0364;derchen? antwortete ihm<lb/>
Medardus, das i&#x017F;t immer &#x017F;o gewe&#x017F;en. Die<lb/>
Chri&#x017F;ten, die &#x017F;ich u&#x0364;ber alle Vo&#x0364;lker des Erdbo-<lb/>
dens, u&#x0364;ber die wei&#x017F;e&#x017F;ten Griechen und Ro&#x0364;-<lb/>
mer erhoben haben, weil die&#x017F;e kein Wort von<lb/>
der Na&#x0364;ch&#x017F;tenliebe &#x017F;agen &#x2014; die barmherzigen,<lb/>
&#x017F;anftmu&#x0364;thigen Chri&#x017F;ten, die es bis auf die&#x017F;e<lb/>
Stunde den Heiden vorwerfen, daß &#x017F;ie ihren<lb/>
Feinden nicht, wie Theaterhelden, großmu&#x0364;-<lb/>
thig vergaben, &#x017F;ondern Beleidigungen auf<lb/>
der Stelle ahndeten &#x2014; die&#x017F;e Chri&#x017F;ten haben<lb/>
von jeher es fu&#x0364;r ihre heilig&#x017F;te Pflicht gehal-<lb/>
ten, die armen Hebra&#x0364;er zu peinigen, zu qua&#x0364;-<lb/>
len, auszu&#x017F;augen, und noch izt, in un&#x017F;erm<lb/>
lichthellen Jahrhunderte &#x017F;ieht es ein großer<lb/>
Theil als eine Wohlthat an, die&#x017F;em irrenden<lb/>
Volke <hi rendition="#fr">men&#x017F;chlich</hi> zu begegnen. &#x2014;</p><lb/>
        <p>Die Nation hat &#x017F;ich freilich &#x017F;elb&#x017F;t unter<lb/>
die Wu&#x0364;rde der Men&#x017F;chheit herabge&#x017F;ezt &#x2014;</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0097] haben: die wir gezwungen haben, Betrieger zu werden, weil wir ihnen alle Mittel ab- ſchneiden, ehrlich ſich zu erhalten, weil wir ſie zu einer Geldquelle beſtimmen, aus wel- cher jedermann ſchoͤpfen will, und verlangen, daß ſie nie verſiegen ſoll. — Siehſt du, Bruͤderchen? antwortete ihm Medardus, das iſt immer ſo geweſen. Die Chriſten, die ſich uͤber alle Voͤlker des Erdbo- dens, uͤber die weiſeſten Griechen und Roͤ- mer erhoben haben, weil dieſe kein Wort von der Naͤchſtenliebe ſagen — die barmherzigen, ſanftmuͤthigen Chriſten, die es bis auf dieſe Stunde den Heiden vorwerfen, daß ſie ihren Feinden nicht, wie Theaterhelden, großmuͤ- thig vergaben, ſondern Beleidigungen auf der Stelle ahndeten — dieſe Chriſten haben von jeher es fuͤr ihre heiligſte Pflicht gehal- ten, die armen Hebraͤer zu peinigen, zu quaͤ- len, auszuſaugen, und noch izt, in unſerm lichthellen Jahrhunderte ſieht es ein großer Theil als eine Wohlthat an, dieſem irrenden Volke menſchlich zu begegnen. — Die Nation hat ſich freilich ſelbſt unter die Wuͤrde der Menſchheit herabgeſezt —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor01_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor01_1776/97
Zitationshilfe: Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor01_1776/97>, abgerufen am 23.11.2024.