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Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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dem die Ernte ausgedroschen ist. -- Das war nur ein Vorwand; sie hatte andere Dinge im Sinn.

Am nächsten Sonntag ging sie nach der Kirche und kniete während des Gesanges und sogar während der Predigt. Ueber Mittag blieb sie im Gotteshause, setzte sich auf die unterste Altarstufe, weinte viel und betete unaufhörlich, daß Gott ihr ihre Sünden vergeben möge. Von den großen Leuchtern war etwas Wachs auf die Decke herabgeträufelt; das sammelte sie, als sie allein war, sorgsam auf, rollte es in ein Kügelchen zusammen und knüpfte es in den Zipfel ihres Tuches. Auch den Nachmittagsgottesdienst über hielt sie ganz nüchtern in der Kirche aus -- sie hatte sich vorgenommen, an diesem Tage zu fasten -- und als dann der Pfarrer aus der Sacristei trat, um über den Kirchhof nach dem Pfarrhause zu gehen, stellte sie sich ihm in den Weg, faßte den weiten Aermel seines Talars, drückte einen Kuß darauf und entfernte sich eiligst, ohne ein Wort zu sprechen. Es waren abergläubische Vorstellungen ganz eigener Art, die sie zu dieser ganzen Handlungsweise bestimmten.

Dann ging sie wirklich nach der Grenze, aber nicht zu ihren Verwandten, sondern zu einem russischen Juden, der den Schmuggelhandel betrieb, und den sie oft bei ihrem Vater gesehen hatte. Er kannte sie und fragte in Erinnerung an die guten Dienste, die ihm der Schmuggler geleistet hatte, freundlich, was ihr Begehr sei. Ich habe mitunter gesehen, sagte sie, daß

dem die Ernte ausgedroschen ist. — Das war nur ein Vorwand; sie hatte andere Dinge im Sinn.

Am nächsten Sonntag ging sie nach der Kirche und kniete während des Gesanges und sogar während der Predigt. Ueber Mittag blieb sie im Gotteshause, setzte sich auf die unterste Altarstufe, weinte viel und betete unaufhörlich, daß Gott ihr ihre Sünden vergeben möge. Von den großen Leuchtern war etwas Wachs auf die Decke herabgeträufelt; das sammelte sie, als sie allein war, sorgsam auf, rollte es in ein Kügelchen zusammen und knüpfte es in den Zipfel ihres Tuches. Auch den Nachmittagsgottesdienst über hielt sie ganz nüchtern in der Kirche aus — sie hatte sich vorgenommen, an diesem Tage zu fasten — und als dann der Pfarrer aus der Sacristei trat, um über den Kirchhof nach dem Pfarrhause zu gehen, stellte sie sich ihm in den Weg, faßte den weiten Aermel seines Talars, drückte einen Kuß darauf und entfernte sich eiligst, ohne ein Wort zu sprechen. Es waren abergläubische Vorstellungen ganz eigener Art, die sie zu dieser ganzen Handlungsweise bestimmten.

Dann ging sie wirklich nach der Grenze, aber nicht zu ihren Verwandten, sondern zu einem russischen Juden, der den Schmuggelhandel betrieb, und den sie oft bei ihrem Vater gesehen hatte. Er kannte sie und fragte in Erinnerung an die guten Dienste, die ihm der Schmuggler geleistet hatte, freundlich, was ihr Begehr sei. Ich habe mitunter gesehen, sagte sie, daß

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[0059] dem die Ernte ausgedroschen ist. — Das war nur ein Vorwand; sie hatte andere Dinge im Sinn. Am nächsten Sonntag ging sie nach der Kirche und kniete während des Gesanges und sogar während der Predigt. Ueber Mittag blieb sie im Gotteshause, setzte sich auf die unterste Altarstufe, weinte viel und betete unaufhörlich, daß Gott ihr ihre Sünden vergeben möge. Von den großen Leuchtern war etwas Wachs auf die Decke herabgeträufelt; das sammelte sie, als sie allein war, sorgsam auf, rollte es in ein Kügelchen zusammen und knüpfte es in den Zipfel ihres Tuches. Auch den Nachmittagsgottesdienst über hielt sie ganz nüchtern in der Kirche aus — sie hatte sich vorgenommen, an diesem Tage zu fasten — und als dann der Pfarrer aus der Sacristei trat, um über den Kirchhof nach dem Pfarrhause zu gehen, stellte sie sich ihm in den Weg, faßte den weiten Aermel seines Talars, drückte einen Kuß darauf und entfernte sich eiligst, ohne ein Wort zu sprechen. Es waren abergläubische Vorstellungen ganz eigener Art, die sie zu dieser ganzen Handlungsweise bestimmten. Dann ging sie wirklich nach der Grenze, aber nicht zu ihren Verwandten, sondern zu einem russischen Juden, der den Schmuggelhandel betrieb, und den sie oft bei ihrem Vater gesehen hatte. Er kannte sie und fragte in Erinnerung an die guten Dienste, die ihm der Schmuggler geleistet hatte, freundlich, was ihr Begehr sei. Ich habe mitunter gesehen, sagte sie, daß

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:07:21Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:07:21Z)

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Zitationshilfe: Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wichert_grita_1910/59>, abgerufen am 21.11.2024.