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Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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war die Urte nicht darin. Sie pflegte jeden Nachmittag über die Haide nach einem Grenzdorf zu gehen, wo sie in der Spinnstube einen kleinen Verdienst hatte und sich recht nach Lust ausplaudern konnte. Grita hatte sie manchmal erst spät in der Nacht zurückkommen und vor Petrick's Fenstern lärmen und schimpfen gehört. Das Haus stand leer.

Sie trat unter die Birken, deren Behang von dünnen kahlen Zweigen vom Winde gejagt durch die Luft peitschte, rüttelte ein wenig an der verschlossenen Thür, horchte am Fenster wohl eine Minute lang und ging dann wieder auf die Dorfstraße hinaus. Nachdem sie dort noch eine Weile gestanden und ausgeschaut hatte, schlich sie um den Zaun herum bis zu dem Trittbrett, stieg vorsichtig über, ließ den Brunnen links liegen und wandte sich um die Klete herum und durch den Garten wieder der Rückseite des Hauses zu, die hier eine zweite Ausgangsthür hatte. Sie wußte, daß deren oberer Theil stets nur angelegt und durch kräftiges Heben und Ziehen zu öffnen war. Es gelang ihr, so in den Flur zu kommen, der sich quer durch das Haus zog, und in dessen Mitte unter dem Schornstein sich die niedrige Kochvorrichtung von Feldsteinen und Lehm befand. Es war ganz dunkel, aber sie wußte trotzdem Bescheid in dem Hause, das genau nach littauischer Art eingerichtet war. Eine Thür seitwärts führte nach der Kammer der Altsitzerin. Grita betrat dieselbe, tastete an der Wand nach dem

war die Urte nicht darin. Sie pflegte jeden Nachmittag über die Haide nach einem Grenzdorf zu gehen, wo sie in der Spinnstube einen kleinen Verdienst hatte und sich recht nach Lust ausplaudern konnte. Grita hatte sie manchmal erst spät in der Nacht zurückkommen und vor Petrick's Fenstern lärmen und schimpfen gehört. Das Haus stand leer.

Sie trat unter die Birken, deren Behang von dünnen kahlen Zweigen vom Winde gejagt durch die Luft peitschte, rüttelte ein wenig an der verschlossenen Thür, horchte am Fenster wohl eine Minute lang und ging dann wieder auf die Dorfstraße hinaus. Nachdem sie dort noch eine Weile gestanden und ausgeschaut hatte, schlich sie um den Zaun herum bis zu dem Trittbrett, stieg vorsichtig über, ließ den Brunnen links liegen und wandte sich um die Klete herum und durch den Garten wieder der Rückseite des Hauses zu, die hier eine zweite Ausgangsthür hatte. Sie wußte, daß deren oberer Theil stets nur angelegt und durch kräftiges Heben und Ziehen zu öffnen war. Es gelang ihr, so in den Flur zu kommen, der sich quer durch das Haus zog, und in dessen Mitte unter dem Schornstein sich die niedrige Kochvorrichtung von Feldsteinen und Lehm befand. Es war ganz dunkel, aber sie wußte trotzdem Bescheid in dem Hause, das genau nach littauischer Art eingerichtet war. Eine Thür seitwärts führte nach der Kammer der Altsitzerin. Grita betrat dieselbe, tastete an der Wand nach dem

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Zitationshilfe: Wichert, Ernst: Ansas und Grita. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 195–300. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wichert_grita_1910/65>, abgerufen am 15.05.2024.