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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, drittes Capitel.
eine freywillige Absonderung von allen irrdischen Din-
gen, durch Ertödung aller irrdischen Leidenschaften und
Entbehrung aller sinnlichen Vergnügen, fähig gemacht
wird. Nur durch diese Entkörperung wird sie der Be-
schauung der wesentlichen und göttlichen Dinge fähig,
worinn die Geister ihre einzige Nahrung und diese voll-
kommne Wonne finden, wovon die sinnlichen Menschen
sich keinen Begriff machen können. Solchergestalt kann
sie nur, nachdem sie durch verschiedne Grade der
Reinigung, von allem was thierisch und körperlich ist,
gesäubert worden, sich wieder zu der überirrdischen Sphä-
re erheben, mit den Göttern leben, und im Unverwand-
ten Anschauen des wesentlichen und ewigen Schönen,
wovon alles Sichtbare bloß der Schatten ist, Ewigkei-
ten durchleben, die eben so grenzenlos sind, als die
Wonne, von der sie überströmet werden.

Jch zweifle nicht daran, Callias, daß es Leute ge-
ben mag, bey denen die Milzsucht hoch genug gestie-
gen ist, daß diese Begriffe eine Art von Wahrheit für
sie haben. Es ist auch nichts leichters, als daß junge
Leute von lebhafter Empfindung und feurigen Einbil-
dungskraft, durch eine einsame Lebensart und den Man-
gel solcher Gegenstände und Freuden, worinn sich die-
ses übermäßige Feuer verzehren könnte, von diesen hoch-
fliegenden Schimären eingenommen werden, welche so
geschikt sind, ihre nach Vergnügen lechzende Einbildungs-
kraft durch eine Art von Wollust zu täuschen, die nur
desto lebhafter ist, je verworrener und dunkler die be-

zaubern-

Drittes Buch, drittes Capitel.
eine freywillige Abſonderung von allen irrdiſchen Din-
gen, durch Ertoͤdung aller irrdiſchen Leidenſchaften und
Entbehrung aller ſinnlichen Vergnuͤgen, faͤhig gemacht
wird. Nur durch dieſe Entkoͤrperung wird ſie der Be-
ſchauung der weſentlichen und goͤttlichen Dinge faͤhig,
worinn die Geiſter ihre einzige Nahrung und dieſe voll-
kommne Wonne finden, wovon die ſinnlichen Menſchen
ſich keinen Begriff machen koͤnnen. Solchergeſtalt kann
ſie nur, nachdem ſie durch verſchiedne Grade der
Reinigung, von allem was thieriſch und koͤrperlich iſt,
geſaͤubert worden, ſich wieder zu der uͤberirrdiſchen Sphaͤ-
re erheben, mit den Goͤttern leben, und im Unverwand-
ten Anſchauen des weſentlichen und ewigen Schoͤnen,
wovon alles Sichtbare bloß der Schatten iſt, Ewigkei-
ten durchleben, die eben ſo grenzenlos ſind, als die
Wonne, von der ſie uͤberſtroͤmet werden.

Jch zweifle nicht daran, Callias, daß es Leute ge-
ben mag, bey denen die Milzſucht hoch genug geſtie-
gen iſt, daß dieſe Begriffe eine Art von Wahrheit fuͤr
ſie haben. Es iſt auch nichts leichters, als daß junge
Leute von lebhafter Empfindung und feurigen Einbil-
dungskraft, durch eine einſame Lebensart und den Man-
gel ſolcher Gegenſtaͤnde und Freuden, worinn ſich die-
ſes uͤbermaͤßige Feuer verzehren koͤnnte, von dieſen hoch-
fliegenden Schimaͤren eingenommen werden, welche ſo
geſchikt ſind, ihre nach Vergnuͤgen lechzende Einbildungs-
kraft durch eine Art von Wolluſt zu taͤuſchen, die nur
deſto lebhafter iſt, je verworrener und dunkler die be-

zaubern-
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[95/0117] Drittes Buch, drittes Capitel. eine freywillige Abſonderung von allen irrdiſchen Din- gen, durch Ertoͤdung aller irrdiſchen Leidenſchaften und Entbehrung aller ſinnlichen Vergnuͤgen, faͤhig gemacht wird. Nur durch dieſe Entkoͤrperung wird ſie der Be- ſchauung der weſentlichen und goͤttlichen Dinge faͤhig, worinn die Geiſter ihre einzige Nahrung und dieſe voll- kommne Wonne finden, wovon die ſinnlichen Menſchen ſich keinen Begriff machen koͤnnen. Solchergeſtalt kann ſie nur, nachdem ſie durch verſchiedne Grade der Reinigung, von allem was thieriſch und koͤrperlich iſt, geſaͤubert worden, ſich wieder zu der uͤberirrdiſchen Sphaͤ- re erheben, mit den Goͤttern leben, und im Unverwand- ten Anſchauen des weſentlichen und ewigen Schoͤnen, wovon alles Sichtbare bloß der Schatten iſt, Ewigkei- ten durchleben, die eben ſo grenzenlos ſind, als die Wonne, von der ſie uͤberſtroͤmet werden. Jch zweifle nicht daran, Callias, daß es Leute ge- ben mag, bey denen die Milzſucht hoch genug geſtie- gen iſt, daß dieſe Begriffe eine Art von Wahrheit fuͤr ſie haben. Es iſt auch nichts leichters, als daß junge Leute von lebhafter Empfindung und feurigen Einbil- dungskraft, durch eine einſame Lebensart und den Man- gel ſolcher Gegenſtaͤnde und Freuden, worinn ſich die- ſes uͤbermaͤßige Feuer verzehren koͤnnte, von dieſen hoch- fliegenden Schimaͤren eingenommen werden, welche ſo geſchikt ſind, ihre nach Vergnuͤgen lechzende Einbildungs- kraft durch eine Art von Wolluſt zu taͤuſchen, die nur deſto lebhafter iſt, je verworrener und dunkler die be- zaubern-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/117>, abgerufen am 23.11.2024.