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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, sechstes Capitel.
das zugehen?" Können nicht zehn Millionen die Pest
haben, und Sokrates allein gesund herum gehen?
"Diese Jnstanz beweißt nichts für dich. Ein Volk hat
nicht immer die Pest; Allein die zehn Millionen den-
ken immer so wie ich. Sie sind also in ihrem natürli-
chen Zustande, wenn sie so denken; und wer anders
denkt, gehört folglich entweder zu einer andern Gattung
von Wesen, oder zu den Wesen, die man Thoren nennt."
So ergeb ich mich in mein Schiksal. "Es giebt noch
eine Alternative, junger Mensch. Du schämest dich, ent-
weder deine Gedanken so schnell zu verändern, oder du
bist ein Heuchler" Keines von beyden, Hippias. "Läug-
ne mir zum Exempel, wenn du kanst, daß dir die schö-
ne Cyane, die uns beym Frühstük bediente, Begierden
eingeflößt hat, und daß du verstohlne Blike --" Jch
läugne nichts. "So gestehe, daß das Anschauen dieser
runden schneeweissen Arme, dieses aus der flatternden
Seide hervorathmenden Busens, die Begierde in dir er-
regt, ihrer zu geniessen." Jst das Anschauen kein Ge-
nuß? "Keine Ausflüchte, junger Mensch!" Du be-
trügst dich, Hippias, wenn es erlaubt ist einem Weisen
das zu sagen; ich bedarf keiner Ausflüchte. Jch ma-
che nur einen Unterschied zwischen einem mechanischen
Jnstinct, der nicht gänzlich von mir abhängt, und dem
Willen meiner Seele. Jch habe den Willen nicht ge-
habt, dessen du mich beschuldigest. "Jch beschuldige
dich nichts, als daß du meiner spottest. Jch denke, daß
ich die Natur kennen sollte. Die Schwärmerey kann
in deinen Jahren keine so unheilbare Krankheit seyn,

daß

Drittes Buch, ſechſtes Capitel.
das zugehen?„ Koͤnnen nicht zehn Millionen die Peſt
haben, und Sokrates allein geſund herum gehen?
„Dieſe Jnſtanz beweißt nichts fuͤr dich. Ein Volk hat
nicht immer die Peſt; Allein die zehn Millionen den-
ken immer ſo wie ich. Sie ſind alſo in ihrem natuͤrli-
chen Zuſtande, wenn ſie ſo denken; und wer anders
denkt, gehoͤrt folglich entweder zu einer andern Gattung
von Weſen, oder zu den Weſen, die man Thoren nennt.„
So ergeb ich mich in mein Schikſal. „Es giebt noch
eine Alternative, junger Menſch. Du ſchaͤmeſt dich, ent-
weder deine Gedanken ſo ſchnell zu veraͤndern, oder du
biſt ein Heuchler„ Keines von beyden, Hippias. „Laͤug-
ne mir zum Exempel, wenn du kanſt, daß dir die ſchoͤ-
ne Cyane, die uns beym Fruͤhſtuͤk bediente, Begierden
eingefloͤßt hat, und daß du verſtohlne Blike ‒‒„ Jch
laͤugne nichts. „So geſtehe, daß das Anſchauen dieſer
runden ſchneeweiſſen Arme, dieſes aus der flatternden
Seide hervorathmenden Buſens, die Begierde in dir er-
regt, ihrer zu genieſſen.„ Jſt das Anſchauen kein Ge-
nuß? „Keine Ausfluͤchte, junger Menſch!„ Du be-
truͤgſt dich, Hippias, wenn es erlaubt iſt einem Weiſen
das zu ſagen; ich bedarf keiner Ausfluͤchte. Jch ma-
che nur einen Unterſchied zwiſchen einem mechaniſchen
Jnſtinct, der nicht gaͤnzlich von mir abhaͤngt, und dem
Willen meiner Seele. Jch habe den Willen nicht ge-
habt, deſſen du mich beſchuldigeſt. „Jch beſchuldige
dich nichts, als daß du meiner ſpotteſt. Jch denke, daß
ich die Natur kennen ſollte. Die Schwaͤrmerey kann
in deinen Jahren keine ſo unheilbare Krankheit ſeyn,

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[125/0147] Drittes Buch, ſechſtes Capitel. das zugehen?„ Koͤnnen nicht zehn Millionen die Peſt haben, und Sokrates allein geſund herum gehen? „Dieſe Jnſtanz beweißt nichts fuͤr dich. Ein Volk hat nicht immer die Peſt; Allein die zehn Millionen den- ken immer ſo wie ich. Sie ſind alſo in ihrem natuͤrli- chen Zuſtande, wenn ſie ſo denken; und wer anders denkt, gehoͤrt folglich entweder zu einer andern Gattung von Weſen, oder zu den Weſen, die man Thoren nennt.„ So ergeb ich mich in mein Schikſal. „Es giebt noch eine Alternative, junger Menſch. Du ſchaͤmeſt dich, ent- weder deine Gedanken ſo ſchnell zu veraͤndern, oder du biſt ein Heuchler„ Keines von beyden, Hippias. „Laͤug- ne mir zum Exempel, wenn du kanſt, daß dir die ſchoͤ- ne Cyane, die uns beym Fruͤhſtuͤk bediente, Begierden eingefloͤßt hat, und daß du verſtohlne Blike ‒‒„ Jch laͤugne nichts. „So geſtehe, daß das Anſchauen dieſer runden ſchneeweiſſen Arme, dieſes aus der flatternden Seide hervorathmenden Buſens, die Begierde in dir er- regt, ihrer zu genieſſen.„ Jſt das Anſchauen kein Ge- nuß? „Keine Ausfluͤchte, junger Menſch!„ Du be- truͤgſt dich, Hippias, wenn es erlaubt iſt einem Weiſen das zu ſagen; ich bedarf keiner Ausfluͤchte. Jch ma- che nur einen Unterſchied zwiſchen einem mechaniſchen Jnſtinct, der nicht gaͤnzlich von mir abhaͤngt, und dem Willen meiner Seele. Jch habe den Willen nicht ge- habt, deſſen du mich beſchuldigeſt. „Jch beſchuldige dich nichts, als daß du meiner ſpotteſt. Jch denke, daß ich die Natur kennen ſollte. Die Schwaͤrmerey kann in deinen Jahren keine ſo unheilbare Krankheit ſeyn, daß

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/147>, abgerufen am 23.11.2024.