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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, sechstes Capitel.
hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den
Dolch in die Brust meines Freundes zu stossen, die
Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu
verrathen, oder mich an die Spize einer Räuberbande
zu stellen; und, wenn ich anders Macht genug habe,
ganze Länder zu verwüsten, ganze Völker in ihrem
Blute zu ertränken? Siehest du nicht, daß deine
Grundsäze, die du so unverschämt Weisheit nennest,
und durch eine künstliche Vermischung des Wahren mit
dem Falschen scheinbar zu machen suchst, wenn sie all-
gemein würden, die Menschen in weit ärgere Unge-
heuer, als Hyänen, Tyger und Crocodille sind, ver-
wandeln würden? Du spottest der Tugend und Reli-
gion? Wisse, nur den unauslöschlichen Zeugen, wo-
mit ihr Bild in unsre Seelen eingegraben ist, nur dem
geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahr-
heit, Ordnung und Güte zieht, und den Gesezen
besser zu statten kommt, als alle Belohnungen und
Strafen, ist es zuzuschreiben, daß es noch Menschen
auf dem Erdboden giebt, und daß unter diesen Men-
schen noch ein Schatten von Sittlichkeit und Güte
zu finden ist. Du erklärst die Jdeen von Tugend
und sittlicher Vollkommenheit für Phantasien. Sie-
he mich hier, Hippias, so wie ich hier bin, biete
ich den Verführungen aller deiner Cyanen, den
scheinbarsten Ueberredungen deiner Weisheit, und al-
len Vortheilen, die mir deine Grundsäze und dein
Beyspiel versprechen, troz. Eine einzige von diesen
Phantasien ist hinreichend die unwesentliche Zauberey

aller
[Agath. I. Th.] J

Drittes Buch, ſechstes Capitel.
hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den
Dolch in die Bruſt meines Freundes zu ſtoſſen, die
Tempel der Goͤtter zu berauben, mein Vaterland zu
verrathen, oder mich an die Spize einer Raͤuberbande
zu ſtellen; und, wenn ich anders Macht genug habe,
ganze Laͤnder zu verwuͤſten, ganze Voͤlker in ihrem
Blute zu ertraͤnken? Sieheſt du nicht, daß deine
Grundſaͤze, die du ſo unverſchaͤmt Weisheit nenneſt,
und durch eine kuͤnſtliche Vermiſchung des Wahren mit
dem Falſchen ſcheinbar zu machen ſuchſt, wenn ſie all-
gemein wuͤrden, die Menſchen in weit aͤrgere Unge-
heuer, als Hyaͤnen, Tyger und Crocodille ſind, ver-
wandeln wuͤrden? Du ſpotteſt der Tugend und Reli-
gion? Wiſſe, nur den unausloͤſchlichen Zeugen, wo-
mit ihr Bild in unſre Seelen eingegraben iſt, nur dem
geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahr-
heit, Ordnung und Guͤte zieht, und den Geſezen
beſſer zu ſtatten kommt, als alle Belohnungen und
Strafen, iſt es zuzuſchreiben, daß es noch Menſchen
auf dem Erdboden giebt, und daß unter dieſen Men-
ſchen noch ein Schatten von Sittlichkeit und Guͤte
zu finden iſt. Du erklaͤrſt die Jdeen von Tugend
und ſittlicher Vollkommenheit fuͤr Phantaſien. Sie-
he mich hier, Hippias, ſo wie ich hier bin, biete
ich den Verfuͤhrungen aller deiner Cyanen, den
ſcheinbarſten Ueberredungen deiner Weisheit, und al-
len Vortheilen, die mir deine Grundſaͤze und dein
Beyſpiel verſprechen, troz. Eine einzige von dieſen
Phantaſien iſt hinreichend die unweſentliche Zauberey

aller
[Agath. I. Th.] J
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[129/0151] Drittes Buch, ſechstes Capitel. hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Bruſt meines Freundes zu ſtoſſen, die Tempel der Goͤtter zu berauben, mein Vaterland zu verrathen, oder mich an die Spize einer Raͤuberbande zu ſtellen; und, wenn ich anders Macht genug habe, ganze Laͤnder zu verwuͤſten, ganze Voͤlker in ihrem Blute zu ertraͤnken? Sieheſt du nicht, daß deine Grundſaͤze, die du ſo unverſchaͤmt Weisheit nenneſt, und durch eine kuͤnſtliche Vermiſchung des Wahren mit dem Falſchen ſcheinbar zu machen ſuchſt, wenn ſie all- gemein wuͤrden, die Menſchen in weit aͤrgere Unge- heuer, als Hyaͤnen, Tyger und Crocodille ſind, ver- wandeln wuͤrden? Du ſpotteſt der Tugend und Reli- gion? Wiſſe, nur den unausloͤſchlichen Zeugen, wo- mit ihr Bild in unſre Seelen eingegraben iſt, nur dem geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahr- heit, Ordnung und Guͤte zieht, und den Geſezen beſſer zu ſtatten kommt, als alle Belohnungen und Strafen, iſt es zuzuſchreiben, daß es noch Menſchen auf dem Erdboden giebt, und daß unter dieſen Men- ſchen noch ein Schatten von Sittlichkeit und Guͤte zu finden iſt. Du erklaͤrſt die Jdeen von Tugend und ſittlicher Vollkommenheit fuͤr Phantaſien. Sie- he mich hier, Hippias, ſo wie ich hier bin, biete ich den Verfuͤhrungen aller deiner Cyanen, den ſcheinbarſten Ueberredungen deiner Weisheit, und al- len Vortheilen, die mir deine Grundſaͤze und dein Beyſpiel verſprechen, troz. Eine einzige von dieſen Phantaſien iſt hinreichend die unweſentliche Zauberey aller [Agath. I. Th.] J

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/151>, abgerufen am 24.11.2024.