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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
leiden kann, so hieß ich ihn Callias, und er verdient
so zu heissen, denu er ist der schönste Mensch, den ich
jemals gesehen habe. Seine übrigen Gaben bestätigen
die gute Meynung, die sein Anblik von ihm erwekt.
Er hat Verstand, Geschmak, und Wissenschaft; er ist
ein Liebhaber und ein Günstling der Musen; aber mit
allen diesen Vorzügen ist er doch nichts weiter als ein wun-
derlicher Kopf, ein Schwärmer und ein unbrauchbarer
Mensch. Er nennt seinen Eigensinn Tugend, weil er sich ein-
bildet, die Tugend müsse die Antipode der Natur seyn; er
hält die Ausschweifungen seiner Phantasie für Vernunft,
weil er sie in einen gewissen Zusammenhang gebracht hat;
uud sich selbst für weise, weil er auf eine methodische Art
raset. Er gefiel mir beym ersten Anblik, ich faßte den
Entschluß, etwas ans diesem jungen Menschen zu ma-
chen; aber alle meine Mühe war umsonst; und wenn
es möglich ist, daß er durch jemand zu recht gebracht
werden kann, so muß es durch ein Frauenzimmer ge-
schehen; denn ich glaube bemerkt zu haben, daß man
nur durch sein Herz in seinen Kopf kommen kann.
Die Unternehmung wäre deiner würdig, schöne Danae,
und wenn sie dir nicht gelingt, so ist er unverbesserlich,
und verdient nichts, als daß man ihn seiner Thorheit
und seinem Schiksal überlasse.

Du hast meinen ganzen Ehrgeiz rege gemacht, Hip-
pias, versezte die schöne Danae; bringe ihn diesen
Abend mit; ich will ihn sehen, und wenn er aus eben
denselben Elementen zusammengesezt ist, wie andre Erden-

Söhne

Agathon.
leiden kann, ſo hieß ich ihn Callias, und er verdient
ſo zu heiſſen, denu er iſt der ſchoͤnſte Menſch, den ich
jemals geſehen habe. Seine uͤbrigen Gaben beſtaͤtigen
die gute Meynung, die ſein Anblik von ihm erwekt.
Er hat Verſtand, Geſchmak, und Wiſſenſchaft; er iſt
ein Liebhaber und ein Guͤnſtling der Muſen; aber mit
allen dieſen Vorzuͤgen iſt er doch nichts weiter als ein wun-
derlicher Kopf, ein Schwaͤrmer und ein unbrauchbarer
Menſch. Er nennt ſeinen Eigenſinn Tugend, weil er ſich ein-
bildet, die Tugend muͤſſe die Antipode der Natur ſeyn; er
haͤlt die Ausſchweifungen ſeiner Phantaſie fuͤr Vernunft,
weil er ſie in einen gewiſſen Zuſammenhang gebracht hat;
uud ſich ſelbſt fuͤr weiſe, weil er auf eine methodiſche Art
raſet. Er gefiel mir beym erſten Anblik, ich faßte den
Entſchluß, etwas ans dieſem jungen Menſchen zu ma-
chen; aber alle meine Muͤhe war umſonſt; und wenn
es moͤglich iſt, daß er durch jemand zu recht gebracht
werden kann, ſo muß es durch ein Frauenzimmer ge-
ſchehen; denn ich glaube bemerkt zu haben, daß man
nur durch ſein Herz in ſeinen Kopf kommen kann.
Die Unternehmung waͤre deiner wuͤrdig, ſchoͤne Danae,
und wenn ſie dir nicht gelingt, ſo iſt er unverbeſſerlich,
und verdient nichts, als daß man ihn ſeiner Thorheit
und ſeinem Schikſal uͤberlaſſe.

Du haſt meinen ganzen Ehrgeiz rege gemacht, Hip-
pias, verſezte die ſchoͤne Danae; bringe ihn dieſen
Abend mit; ich will ihn ſehen, und wenn er aus eben
denſelben Elementen zuſammengeſezt iſt, wie andre Erden-

Soͤhne
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[144/0166] Agathon. leiden kann, ſo hieß ich ihn Callias, und er verdient ſo zu heiſſen, denu er iſt der ſchoͤnſte Menſch, den ich jemals geſehen habe. Seine uͤbrigen Gaben beſtaͤtigen die gute Meynung, die ſein Anblik von ihm erwekt. Er hat Verſtand, Geſchmak, und Wiſſenſchaft; er iſt ein Liebhaber und ein Guͤnſtling der Muſen; aber mit allen dieſen Vorzuͤgen iſt er doch nichts weiter als ein wun- derlicher Kopf, ein Schwaͤrmer und ein unbrauchbarer Menſch. Er nennt ſeinen Eigenſinn Tugend, weil er ſich ein- bildet, die Tugend muͤſſe die Antipode der Natur ſeyn; er haͤlt die Ausſchweifungen ſeiner Phantaſie fuͤr Vernunft, weil er ſie in einen gewiſſen Zuſammenhang gebracht hat; uud ſich ſelbſt fuͤr weiſe, weil er auf eine methodiſche Art raſet. Er gefiel mir beym erſten Anblik, ich faßte den Entſchluß, etwas ans dieſem jungen Menſchen zu ma- chen; aber alle meine Muͤhe war umſonſt; und wenn es moͤglich iſt, daß er durch jemand zu recht gebracht werden kann, ſo muß es durch ein Frauenzimmer ge- ſchehen; denn ich glaube bemerkt zu haben, daß man nur durch ſein Herz in ſeinen Kopf kommen kann. Die Unternehmung waͤre deiner wuͤrdig, ſchoͤne Danae, und wenn ſie dir nicht gelingt, ſo iſt er unverbeſſerlich, und verdient nichts, als daß man ihn ſeiner Thorheit und ſeinem Schikſal uͤberlaſſe. Du haſt meinen ganzen Ehrgeiz rege gemacht, Hip- pias, verſezte die ſchoͤne Danae; bringe ihn dieſen Abend mit; ich will ihn ſehen, und wenn er aus eben denſelben Elementen zuſammengeſezt iſt, wie andre Erden- Soͤhne

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/166>, abgerufen am 24.11.2024.