Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Buch, viertes Capitel.
waren. Agathon, auf den alles lebhaftere Eindrüke
machte, als es nöthig war, um nach dem Maaßstaab
der Moralisten genug zu seyn, wurde durch alles was
er sah, so sehr bezaubert, daß er sich in eine von seinen
idealischen Welten versezt glaubte. Allein eh er Zeit
hatte zu sich selbst zu kommen, führte ihn Hippias in einen
grossen und hellerleuchteten Saal, worinn die Gesell-
schaft versammelt war, welche sie vermehren sollten.
Er hatte kaum einen Blik auf sie geworfen, als die schö-
ne Danae ihm mit einer Anmuth und Leutseligkeit die
ihr eigen war, entgegen kam, und ihm sagte, daß
ein Freund des Hippias das Recht habe, sich in ihrem
Hause und in dieser Gesellschaft als einheimisch anzuse-
hen. Ein so verbindliches Compliment verdiente wohl
eine Antwort in eben diesem Ton; allein Agathon war
in diesem Augenblik ausser Stand, höflich zu seyn: Ein
Blik, womit man den äussersten Grad des angenehmsten
Erstaunens mahlen müßte, war alles, was er auf diese
Anred' erwiedern konnte. Die Gesellschaft, die er ver-
sammelt fand, war aus lauter solchen Personen zusam-
mengesezt, welche die Vorrechte des vertrautesten Um-
gangs in diesem Hause genossen, und die attische Ur-
banität, die von der spröden, regelmäßigen und ma-
nierenreichen Politesse der heutigen Europäer so sehr
verschieden war, in einem so hohen Grad als Danae
selbst, besassen. Jn einer Gesellschaft nach der heutigen
Art würde Agathon, in den ersten Augenbliken, da er
sich darstellte, zu einer unendlichen Menge von boß-
haften und spöttischen Anmerkungen Stoff gegeben ha-

ben;
K 5

Viertes Buch, viertes Capitel.
waren. Agathon, auf den alles lebhaftere Eindruͤke
machte, als es noͤthig war, um nach dem Maaßſtaab
der Moraliſten genug zu ſeyn, wurde durch alles was
er ſah, ſo ſehr bezaubert, daß er ſich in eine von ſeinen
idealiſchen Welten verſezt glaubte. Allein eh er Zeit
hatte zu ſich ſelbſt zu kommen, fuͤhrte ihn Hippias in einen
groſſen und hellerleuchteten Saal, worinn die Geſell-
ſchaft verſammelt war, welche ſie vermehren ſollten.
Er hatte kaum einen Blik auf ſie geworfen, als die ſchoͤ-
ne Danae ihm mit einer Anmuth und Leutſeligkeit die
ihr eigen war, entgegen kam, und ihm ſagte, daß
ein Freund des Hippias das Recht habe, ſich in ihrem
Hauſe und in dieſer Geſellſchaft als einheimiſch anzuſe-
hen. Ein ſo verbindliches Compliment verdiente wohl
eine Antwort in eben dieſem Ton; allein Agathon war
in dieſem Augenblik auſſer Stand, hoͤflich zu ſeyn: Ein
Blik, womit man den aͤuſſerſten Grad des angenehmſten
Erſtaunens mahlen muͤßte, war alles, was er auf dieſe
Anred’ erwiedern konnte. Die Geſellſchaft, die er ver-
ſammelt fand, war aus lauter ſolchen Perſonen zuſam-
mengeſezt, welche die Vorrechte des vertrauteſten Um-
gangs in dieſem Hauſe genoſſen, und die attiſche Ur-
banitaͤt, die von der ſproͤden, regelmaͤßigen und ma-
nierenreichen Politeſſe der heutigen Europaͤer ſo ſehr
verſchieden war, in einem ſo hohen Grad als Danae
ſelbſt, beſaſſen. Jn einer Geſellſchaft nach der heutigen
Art wuͤrde Agathon, in den erſten Augenbliken, da er
ſich darſtellte, zu einer unendlichen Menge von boß-
haften und ſpoͤttiſchen Anmerkungen Stoff gegeben ha-

ben;
K 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0175" n="153"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Viertes Buch, viertes Capitel.</hi></fw><lb/>
waren. Agathon, auf den alles lebhaftere Eindru&#x0364;ke<lb/>
machte, als es no&#x0364;thig war, um nach dem Maaß&#x017F;taab<lb/>
der Morali&#x017F;ten genug zu &#x017F;eyn, wurde durch alles was<lb/>
er &#x017F;ah, &#x017F;o &#x017F;ehr bezaubert, daß er &#x017F;ich in eine von &#x017F;einen<lb/>
ideali&#x017F;chen Welten ver&#x017F;ezt glaubte. Allein eh er Zeit<lb/>
hatte zu &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu kommen, fu&#x0364;hrte ihn Hippias in einen<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;en und hellerleuchteten Saal, worinn die Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft ver&#x017F;ammelt war, welche &#x017F;ie vermehren &#x017F;ollten.<lb/>
Er hatte kaum einen Blik auf &#x017F;ie geworfen, als die &#x017F;cho&#x0364;-<lb/>
ne Danae ihm mit einer Anmuth und Leut&#x017F;eligkeit die<lb/>
ihr eigen war, entgegen kam, und ihm &#x017F;agte, daß<lb/>
ein Freund des Hippias das Recht habe, &#x017F;ich in ihrem<lb/>
Hau&#x017F;e und in die&#x017F;er Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft als einheimi&#x017F;ch anzu&#x017F;e-<lb/>
hen. Ein &#x017F;o verbindliches Compliment verdiente wohl<lb/>
eine Antwort in eben die&#x017F;em Ton; allein Agathon war<lb/>
in die&#x017F;em Augenblik au&#x017F;&#x017F;er Stand, ho&#x0364;flich zu &#x017F;eyn: Ein<lb/>
Blik, womit man den a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;ten Grad des angenehm&#x017F;ten<lb/>
Er&#x017F;taunens mahlen mu&#x0364;ßte, war alles, was er auf die&#x017F;e<lb/>
Anred&#x2019; erwiedern konnte. Die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, die er ver-<lb/>
&#x017F;ammelt fand, war aus lauter &#x017F;olchen Per&#x017F;onen zu&#x017F;am-<lb/>
menge&#x017F;ezt, welche die Vorrechte des vertraute&#x017F;ten Um-<lb/>
gangs in die&#x017F;em Hau&#x017F;e geno&#x017F;&#x017F;en, und die atti&#x017F;che Ur-<lb/>
banita&#x0364;t, die von der &#x017F;pro&#x0364;den, regelma&#x0364;ßigen und ma-<lb/>
nierenreichen Polite&#x017F;&#x017F;e der heutigen Europa&#x0364;er &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
ver&#x017F;chieden war, in einem &#x017F;o hohen Grad als Danae<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, be&#x017F;a&#x017F;&#x017F;en. Jn einer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft nach der heutigen<lb/>
Art wu&#x0364;rde Agathon, in den er&#x017F;ten Augenbliken, da er<lb/>
&#x017F;ich dar&#x017F;tellte, zu einer unendlichen Menge von boß-<lb/>
haften und &#x017F;po&#x0364;tti&#x017F;chen Anmerkungen Stoff gegeben ha-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">K 5</fw><fw place="bottom" type="catch">ben;</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[153/0175] Viertes Buch, viertes Capitel. waren. Agathon, auf den alles lebhaftere Eindruͤke machte, als es noͤthig war, um nach dem Maaßſtaab der Moraliſten genug zu ſeyn, wurde durch alles was er ſah, ſo ſehr bezaubert, daß er ſich in eine von ſeinen idealiſchen Welten verſezt glaubte. Allein eh er Zeit hatte zu ſich ſelbſt zu kommen, fuͤhrte ihn Hippias in einen groſſen und hellerleuchteten Saal, worinn die Geſell- ſchaft verſammelt war, welche ſie vermehren ſollten. Er hatte kaum einen Blik auf ſie geworfen, als die ſchoͤ- ne Danae ihm mit einer Anmuth und Leutſeligkeit die ihr eigen war, entgegen kam, und ihm ſagte, daß ein Freund des Hippias das Recht habe, ſich in ihrem Hauſe und in dieſer Geſellſchaft als einheimiſch anzuſe- hen. Ein ſo verbindliches Compliment verdiente wohl eine Antwort in eben dieſem Ton; allein Agathon war in dieſem Augenblik auſſer Stand, hoͤflich zu ſeyn: Ein Blik, womit man den aͤuſſerſten Grad des angenehmſten Erſtaunens mahlen muͤßte, war alles, was er auf dieſe Anred’ erwiedern konnte. Die Geſellſchaft, die er ver- ſammelt fand, war aus lauter ſolchen Perſonen zuſam- mengeſezt, welche die Vorrechte des vertrauteſten Um- gangs in dieſem Hauſe genoſſen, und die attiſche Ur- banitaͤt, die von der ſproͤden, regelmaͤßigen und ma- nierenreichen Politeſſe der heutigen Europaͤer ſo ſehr verſchieden war, in einem ſo hohen Grad als Danae ſelbſt, beſaſſen. Jn einer Geſellſchaft nach der heutigen Art wuͤrde Agathon, in den erſten Augenbliken, da er ſich darſtellte, zu einer unendlichen Menge von boß- haften und ſpoͤttiſchen Anmerkungen Stoff gegeben ha- ben; K 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/175
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/175>, abgerufen am 24.11.2024.