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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Sechstes Buch, zweytes Capitel.
von der Welt machte; als eine zärtliche Symphonie
von Flöten aus der Luft, wie es schien, herabtönend,
die Augen zu einer neuen Erscheinung aufmerksam machte.
Die Liebesgötter, die Faunen und die Grazien waren
indeß verschwunden, und es öfnete sich der Danae ge-
genüber die waldichte Scene, um den Liebesgott dar-
zustellen, auf einem goldnen Gewölke sizend, welches
über den Rosenbüschen von Zephyren emporgehalten
wurde. Ein schalkhaftes Lächeln, das sein liebliches
Gesicht umscherzte, schien die Herzen zu warnen, sich
von der tändelnden Unschuld dieses schönen Götterkna-
bens nicht sorglos machen zu lassen. Er sang mit lieb-
licher Stimme, und der Jnnhalt seines Gesangs drükte
seine Freude aus, daß er endlich eine bequeme Gele-
genheit gefunden habe, sich an der schönen Danae zu
rächen. "Gleich der Liebesgöttin, meiner Mutter
(sang er) "herrscht sie unumschränkt über die Her-
"zen, und haucht allgemeine Liebe umher: Von ih-
"ren Bliken beseelt, wendet ihr die Natur, als ihrer
"Göttin, sich zu; verschönert, wenn sie lächelt, trau-
"rig und welkend, wenn sie sich von ihr kehrt: Ver-
"lassen stehn die Altäre zu Paphos, die Seufzer der
"Liebenden wallen nur ihr entgegen; und indem ihre
"siegreichen Augen ringsum sie her jedes Herz ver-
"wunden und entzüken, lacht sie, die Stolze, meiner
"Pfeile, und trozt mit unbezwungner Brust der Macht,
"vor welcher Götter zittern: Aber nicht länger soll sie
"trozen; hier ist der schärfste Pfeil, scharf genug ei-
"nen Busen von Marmor zu spalten, und die kälteste

"Seele
P 4

Sechstes Buch, zweytes Capitel.
von der Welt machte; als eine zaͤrtliche Symphonie
von Floͤten aus der Luft, wie es ſchien, herabtoͤnend,
die Augen zu einer neuen Erſcheinung aufmerkſam machte.
Die Liebesgoͤtter, die Faunen und die Grazien waren
indeß verſchwunden, und es oͤfnete ſich der Danae ge-
genuͤber die waldichte Scene, um den Liebesgott dar-
zuſtellen, auf einem goldnen Gewoͤlke ſizend, welches
uͤber den Roſenbuͤſchen von Zephyren emporgehalten
wurde. Ein ſchalkhaftes Laͤcheln, das ſein liebliches
Geſicht umſcherzte, ſchien die Herzen zu warnen, ſich
von der taͤndelnden Unſchuld dieſes ſchoͤnen Goͤtterkna-
bens nicht ſorglos machen zu laſſen. Er ſang mit lieb-
licher Stimme, und der Jnnhalt ſeines Geſangs druͤkte
ſeine Freude aus, daß er endlich eine bequeme Gele-
genheit gefunden habe, ſich an der ſchoͤnen Danae zu
raͤchen. „Gleich der Liebesgoͤttin, meiner Mutter
(ſang er) „herrſcht ſie unumſchraͤnkt uͤber die Her-
„zen, und haucht allgemeine Liebe umher: Von ih-
„ren Bliken beſeelt, wendet ihr die Natur, als ihrer
„Goͤttin, ſich zu; verſchoͤnert, wenn ſie laͤchelt, trau-
„rig und welkend, wenn ſie ſich von ihr kehrt: Ver-
„laſſen ſtehn die Altaͤre zu Paphos, die Seufzer der
„Liebenden wallen nur ihr entgegen; und indem ihre
„ſiegreichen Augen ringsum ſie her jedes Herz ver-
„wunden und entzuͤken, lacht ſie, die Stolze, meiner
„Pfeile, und trozt mit unbezwungner Bruſt der Macht,
„vor welcher Goͤtter zittern: Aber nicht laͤnger ſoll ſie
„trozen; hier iſt der ſchaͤrfſte Pfeil, ſcharf genug ei-
„nen Buſen von Marmor zu ſpalten, und die kaͤlteſte

„Seele
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[231/0253] Sechstes Buch, zweytes Capitel. von der Welt machte; als eine zaͤrtliche Symphonie von Floͤten aus der Luft, wie es ſchien, herabtoͤnend, die Augen zu einer neuen Erſcheinung aufmerkſam machte. Die Liebesgoͤtter, die Faunen und die Grazien waren indeß verſchwunden, und es oͤfnete ſich der Danae ge- genuͤber die waldichte Scene, um den Liebesgott dar- zuſtellen, auf einem goldnen Gewoͤlke ſizend, welches uͤber den Roſenbuͤſchen von Zephyren emporgehalten wurde. Ein ſchalkhaftes Laͤcheln, das ſein liebliches Geſicht umſcherzte, ſchien die Herzen zu warnen, ſich von der taͤndelnden Unſchuld dieſes ſchoͤnen Goͤtterkna- bens nicht ſorglos machen zu laſſen. Er ſang mit lieb- licher Stimme, und der Jnnhalt ſeines Geſangs druͤkte ſeine Freude aus, daß er endlich eine bequeme Gele- genheit gefunden habe, ſich an der ſchoͤnen Danae zu raͤchen. „Gleich der Liebesgoͤttin, meiner Mutter (ſang er) „herrſcht ſie unumſchraͤnkt uͤber die Her- „zen, und haucht allgemeine Liebe umher: Von ih- „ren Bliken beſeelt, wendet ihr die Natur, als ihrer „Goͤttin, ſich zu; verſchoͤnert, wenn ſie laͤchelt, trau- „rig und welkend, wenn ſie ſich von ihr kehrt: Ver- „laſſen ſtehn die Altaͤre zu Paphos, die Seufzer der „Liebenden wallen nur ihr entgegen; und indem ihre „ſiegreichen Augen ringsum ſie her jedes Herz ver- „wunden und entzuͤken, lacht ſie, die Stolze, meiner „Pfeile, und trozt mit unbezwungner Bruſt der Macht, „vor welcher Goͤtter zittern: Aber nicht laͤnger ſoll ſie „trozen; hier iſt der ſchaͤrfſte Pfeil, ſcharf genug ei- „nen Buſen von Marmor zu ſpalten, und die kaͤlteſte „Seele P 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/253>, abgerufen am 22.11.2024.