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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Sechstes Buch, viertes Capitel.
Geist sich wiegte -- welch eine selige Schwärme-
rey! Und wie viel glüklicher machten mich diese Träu-
me, als alle die rauschenden Freuden, welche die
Sinnen in einem Wirbel von Wollust dahinreissen, und
wenn sie vorüber sind, nichts als Beschämung und
Reue, und ein schwermüthiges Leeres im unbefriedig-
ten Geist zurüklassen!

Vielleicht werden unsre Leser aus demjenigen, was
damals in dem Gemüthe unsers Helden vorgieng, sich
viel Gutes für seine Wiederkehr zur Tugend weissagen.
Aber mit Bedauern müssen wir gestehen, daß sich eine
andre Seele in seinem Jnnwendigen erhob, welche die
Würkung dieser guten Regungen in kurzem wieder un-
kräftig machte; es sey nun, daß es die Stimme der
Natur oder der Leidenschaft war, oder daß beyde sich
vereinigten, ihn ohne Abbruch seiner Eigenliebe wie-
der mit sich selbst und dem Gegenwärtigen auszusöhnen.

Jn der That war es bey der Lebhaftigkeit, welche
alle Jdeen und Gemüthsbewegungen dieses sonderbaren
Menschens charakteristerte, kaum möglich, daß der über-
spannte Affect, worinn wir ihn gesehen haben, von
langer Dauer hätte seyn können. Die Stärke seiner
Empfindungen rieb sich an sich selbst ab; seine Einbil-
dungskraft pflegte in solchen Fällen so lange in gera-
dem Lauf fortzuschiessen, bis sie sich genöthiget fand,
wieder umzukehren. Er fieng nun an, sich zu überre-
den, daß mehr Schwärmerey als Wahrheit und Ver-

nunft
Q 4

Sechstes Buch, viertes Capitel.
Geiſt ſich wiegte — welch eine ſelige Schwaͤrme-
rey! Und wie viel gluͤklicher machten mich dieſe Traͤu-
me, als alle die rauſchenden Freuden, welche die
Sinnen in einem Wirbel von Wolluſt dahinreiſſen, und
wenn ſie voruͤber ſind, nichts als Beſchaͤmung und
Reue, und ein ſchwermuͤthiges Leeres im unbefriedig-
ten Geiſt zuruͤklaſſen!

Vielleicht werden unſre Leſer aus demjenigen, was
damals in dem Gemuͤthe unſers Helden vorgieng, ſich
viel Gutes fuͤr ſeine Wiederkehr zur Tugend weiſſagen.
Aber mit Bedauern muͤſſen wir geſtehen, daß ſich eine
andre Seele in ſeinem Jnnwendigen erhob, welche die
Wuͤrkung dieſer guten Regungen in kurzem wieder un-
kraͤftig machte; es ſey nun, daß es die Stimme der
Natur oder der Leidenſchaft war, oder daß beyde ſich
vereinigten, ihn ohne Abbruch ſeiner Eigenliebe wie-
der mit ſich ſelbſt und dem Gegenwaͤrtigen auszuſoͤhnen.

Jn der That war es bey der Lebhaftigkeit, welche
alle Jdeen und Gemuͤthsbewegungen dieſes ſonderbaren
Menſchens charakteriſterte, kaum moͤglich, daß der uͤber-
ſpannte Affect, worinn wir ihn geſehen haben, von
langer Dauer haͤtte ſeyn koͤnnen. Die Staͤrke ſeiner
Empfindungen rieb ſich an ſich ſelbſt ab; ſeine Einbil-
dungskraft pflegte in ſolchen Faͤllen ſo lange in gera-
dem Lauf fortzuſchieſſen, bis ſie ſich genoͤthiget fand,
wieder umzukehren. Er fieng nun an, ſich zu uͤberre-
den, daß mehr Schwaͤrmerey als Wahrheit und Ver-

nunft
Q 4
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[247/0269] Sechstes Buch, viertes Capitel. Geiſt ſich wiegte — welch eine ſelige Schwaͤrme- rey! Und wie viel gluͤklicher machten mich dieſe Traͤu- me, als alle die rauſchenden Freuden, welche die Sinnen in einem Wirbel von Wolluſt dahinreiſſen, und wenn ſie voruͤber ſind, nichts als Beſchaͤmung und Reue, und ein ſchwermuͤthiges Leeres im unbefriedig- ten Geiſt zuruͤklaſſen! Vielleicht werden unſre Leſer aus demjenigen, was damals in dem Gemuͤthe unſers Helden vorgieng, ſich viel Gutes fuͤr ſeine Wiederkehr zur Tugend weiſſagen. Aber mit Bedauern muͤſſen wir geſtehen, daß ſich eine andre Seele in ſeinem Jnnwendigen erhob, welche die Wuͤrkung dieſer guten Regungen in kurzem wieder un- kraͤftig machte; es ſey nun, daß es die Stimme der Natur oder der Leidenſchaft war, oder daß beyde ſich vereinigten, ihn ohne Abbruch ſeiner Eigenliebe wie- der mit ſich ſelbſt und dem Gegenwaͤrtigen auszuſoͤhnen. Jn der That war es bey der Lebhaftigkeit, welche alle Jdeen und Gemuͤthsbewegungen dieſes ſonderbaren Menſchens charakteriſterte, kaum moͤglich, daß der uͤber- ſpannte Affect, worinn wir ihn geſehen haben, von langer Dauer haͤtte ſeyn koͤnnen. Die Staͤrke ſeiner Empfindungen rieb ſich an ſich ſelbſt ab; ſeine Einbil- dungskraft pflegte in ſolchen Faͤllen ſo lange in gera- dem Lauf fortzuſchieſſen, bis ſie ſich genoͤthiget fand, wieder umzukehren. Er fieng nun an, ſich zu uͤberre- den, daß mehr Schwaͤrmerey als Wahrheit und Ver- nunft Q 4

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/269>, abgerufen am 24.11.2024.