Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Siebentes Buch, erstes Capitel. Puppen und Spielwerke seiner Kindheit anzusehen pflegt.Noch unfähig, von den Verdiensten und dem wahren Werth der vergötterten Helden mir einen ächten Begriff zu machen, stand ich oft vor ihren Bildern, und fühl- te, indem ich sie betrachtete, mein Herz mit geheimen Empfindungen ihrer Grösse und mit einer Bewundrung erfüllt, wovon ich keine andre Ursache als mein innres Gefühl hätte angeben können. Einen noch stärkern Ein- druk machte auf mich die grosse Menge von Bildern der verschiednen Gottheiten, unter welchen unsre Vor- eltern die erhaltenden Kräfte der Natur, die manch- faltigen Vollkommenheiten des menschlichen Geistes und die Tugenden des geselligen Lebens personificiert haben, und wovon ich im Tempel und in den Haynen von Delphi mich allenthalben umgeben fand. Meine dama- lige Erfahrung, schöne Danae, hat mich seitdem oft- mals auf die Betrachtung geleitet, wie groß der Beytrag sey, welchen die schönen Künste zu Bildung des sittli- chen Menschen thun können; und wie weißlich die Prie- ster der Griechen gehandelt, da sie die Musen und Gra- zien, deren Lieblinge ihnen so grosse Dienste gethan, selbst unter die Zahl der Gottheiten aufgenommen haben. Der wahre Vortheil der Religion, in so fern sie eine besondere Angelegenheit des priesterlichen Ordens ist, scheinet von der Stärke der Eindrüke abzuhangen, die wir in denjenigen Jahren empfangen, worinn wir noch unfähig sind, Untersuchungen anzustellen. Würden unsre Seelen in Absicht der Götter und ihres Dienstes von der Kindheit an leere Tafeln gelassen, und an- statt R 2
Siebentes Buch, erſtes Capitel. Puppen und Spielwerke ſeiner Kindheit anzuſehen pflegt.Noch unfaͤhig, von den Verdienſten und dem wahren Werth der vergoͤtterten Helden mir einen aͤchten Begriff zu machen, ſtand ich oft vor ihren Bildern, und fuͤhl- te, indem ich ſie betrachtete, mein Herz mit geheimen Empfindungen ihrer Groͤſſe und mit einer Bewundrung erfuͤllt, wovon ich keine andre Urſache als mein innres Gefuͤhl haͤtte angeben koͤnnen. Einen noch ſtaͤrkern Ein- druk machte auf mich die groſſe Menge von Bildern der verſchiednen Gottheiten, unter welchen unſre Vor- eltern die erhaltenden Kraͤfte der Natur, die manch- faltigen Vollkommenheiten des menſchlichen Geiſtes und die Tugenden des geſelligen Lebens perſonificiert haben, und wovon ich im Tempel und in den Haynen von Delphi mich allenthalben umgeben fand. Meine dama- lige Erfahrung, ſchoͤne Danae, hat mich ſeitdem oft- mals auf die Betrachtung geleitet, wie groß der Beytrag ſey, welchen die ſchoͤnen Kuͤnſte zu Bildung des ſittli- chen Menſchen thun koͤnnen; und wie weißlich die Prie- ſter der Griechen gehandelt, da ſie die Muſen und Gra- zien, deren Lieblinge ihnen ſo groſſe Dienſte gethan, ſelbſt unter die Zahl der Gottheiten aufgenommen haben. Der wahre Vortheil der Religion, in ſo fern ſie eine beſondere Angelegenheit des prieſterlichen Ordens iſt, ſcheinet von der Staͤrke der Eindruͤke abzuhangen, die wir in denjenigen Jahren empfangen, worinn wir noch unfaͤhig ſind, Unterſuchungen anzuſtellen. Wuͤrden unſre Seelen in Abſicht der Goͤtter und ihres Dienſtes von der Kindheit an leere Tafeln gelaſſen, und an- ſtatt R 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0281" n="259"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Siebentes Buch, erſtes Capitel.</hi></fw><lb/> Puppen und Spielwerke ſeiner Kindheit anzuſehen pflegt.<lb/> Noch unfaͤhig, von den Verdienſten und dem wahren<lb/> Werth der vergoͤtterten Helden mir einen aͤchten Begriff<lb/> zu machen, ſtand ich oft vor ihren Bildern, und fuͤhl-<lb/> te, indem ich ſie betrachtete, mein Herz mit geheimen<lb/> Empfindungen ihrer Groͤſſe und mit einer Bewundrung<lb/> erfuͤllt, wovon ich keine andre Urſache als mein innres<lb/> Gefuͤhl haͤtte angeben koͤnnen. Einen noch ſtaͤrkern Ein-<lb/> druk machte auf mich die groſſe Menge von Bildern<lb/> der verſchiednen Gottheiten, unter welchen unſre Vor-<lb/> eltern die erhaltenden Kraͤfte der Natur, die manch-<lb/> faltigen Vollkommenheiten des menſchlichen Geiſtes und<lb/> die Tugenden des geſelligen Lebens perſonificiert haben,<lb/> und wovon ich im Tempel und in den Haynen von<lb/> Delphi mich allenthalben umgeben fand. Meine dama-<lb/> lige Erfahrung, ſchoͤne Danae, hat mich ſeitdem oft-<lb/> mals auf die Betrachtung geleitet, wie groß der Beytrag<lb/> ſey, welchen die ſchoͤnen Kuͤnſte zu Bildung des ſittli-<lb/> chen Menſchen thun koͤnnen; und wie weißlich die Prie-<lb/> ſter der Griechen gehandelt, da ſie die Muſen und Gra-<lb/> zien, deren Lieblinge ihnen ſo groſſe Dienſte gethan,<lb/> ſelbſt unter die Zahl der Gottheiten aufgenommen haben.<lb/> Der wahre Vortheil der Religion, in ſo fern ſie eine<lb/> beſondere Angelegenheit des prieſterlichen Ordens iſt,<lb/> ſcheinet von der Staͤrke der Eindruͤke abzuhangen, die<lb/> wir in denjenigen Jahren empfangen, worinn wir<lb/> noch unfaͤhig ſind, Unterſuchungen anzuſtellen. Wuͤrden<lb/> unſre Seelen in Abſicht der Goͤtter und ihres Dienſtes<lb/> von der Kindheit an leere Tafeln gelaſſen, und an-<lb/> <fw place="bottom" type="sig">R 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ſtatt</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [259/0281]
Siebentes Buch, erſtes Capitel.
Puppen und Spielwerke ſeiner Kindheit anzuſehen pflegt.
Noch unfaͤhig, von den Verdienſten und dem wahren
Werth der vergoͤtterten Helden mir einen aͤchten Begriff
zu machen, ſtand ich oft vor ihren Bildern, und fuͤhl-
te, indem ich ſie betrachtete, mein Herz mit geheimen
Empfindungen ihrer Groͤſſe und mit einer Bewundrung
erfuͤllt, wovon ich keine andre Urſache als mein innres
Gefuͤhl haͤtte angeben koͤnnen. Einen noch ſtaͤrkern Ein-
druk machte auf mich die groſſe Menge von Bildern
der verſchiednen Gottheiten, unter welchen unſre Vor-
eltern die erhaltenden Kraͤfte der Natur, die manch-
faltigen Vollkommenheiten des menſchlichen Geiſtes und
die Tugenden des geſelligen Lebens perſonificiert haben,
und wovon ich im Tempel und in den Haynen von
Delphi mich allenthalben umgeben fand. Meine dama-
lige Erfahrung, ſchoͤne Danae, hat mich ſeitdem oft-
mals auf die Betrachtung geleitet, wie groß der Beytrag
ſey, welchen die ſchoͤnen Kuͤnſte zu Bildung des ſittli-
chen Menſchen thun koͤnnen; und wie weißlich die Prie-
ſter der Griechen gehandelt, da ſie die Muſen und Gra-
zien, deren Lieblinge ihnen ſo groſſe Dienſte gethan,
ſelbſt unter die Zahl der Gottheiten aufgenommen haben.
Der wahre Vortheil der Religion, in ſo fern ſie eine
beſondere Angelegenheit des prieſterlichen Ordens iſt,
ſcheinet von der Staͤrke der Eindruͤke abzuhangen, die
wir in denjenigen Jahren empfangen, worinn wir
noch unfaͤhig ſind, Unterſuchungen anzuſtellen. Wuͤrden
unſre Seelen in Abſicht der Goͤtter und ihres Dienſtes
von der Kindheit an leere Tafeln gelaſſen, und an-
ſtatt
R 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |