Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
dringe und erfülle, wie die Sonne einen angestralten
Wasser-Tropfen. Jch überredete mich, daß die unver-
rükte Beschauung der Weisheit und Güte, welche so
wol aus der besondern Natur eines jeden Theils der
Schöpfung, als aus dem Plan und der allgemeinen
Oeconomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare
Mittel sey, selbst weise und gut zu werden. Jch
brachte alle diese Grundsäze in Ausübung. Jeder neue
Gedanke, der sich in mir entwikelte, wurde zu einer
Empfindung meines Herzens; und so lebte ich in einem
stillen und lichtvollen Zustand des Gemüths, dessen ich
mich niemals anders als mit wehmüthigem Vergnügen
erinnern werde, etliche glükliche Jahre hin; unwissend
(und glüklich durch diese Unwissenheit) daß dieser Zu-
stand nicht dauern könne; weil die Leidenschaften des
reiffenden Alters, und (wenn auch diese nicht wären)
die unvermeidliche Verwiklung in dem Wechsel der mensch-
lichen Dinge jene Fortdauer von innerlicher Heiterkeit
und Ruhe nicht gestatten, welche nur ein Antheil ent-
cörperter Wesen seyn kan.

Drittes Capitel.
Die Liebe in verschiedenen Gestalten.

Jnzwischen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und
fieng nun an, mitten unter den angenehmen Empfin-
dungen, von denen meine Denkungs-Art und meine Be-

schäf-

Agathon.
dringe und erfuͤlle, wie die Sonne einen angeſtralten
Waſſer-Tropfen. Jch uͤberredete mich, daß die unver-
ruͤkte Beſchauung der Weisheit und Guͤte, welche ſo
wol aus der beſondern Natur eines jeden Theils der
Schoͤpfung, als aus dem Plan und der allgemeinen
Oeconomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare
Mittel ſey, ſelbſt weiſe und gut zu werden. Jch
brachte alle dieſe Grundſaͤze in Ausuͤbung. Jeder neue
Gedanke, der ſich in mir entwikelte, wurde zu einer
Empfindung meines Herzens; und ſo lebte ich in einem
ſtillen und lichtvollen Zuſtand des Gemuͤths, deſſen ich
mich niemals anders als mit wehmuͤthigem Vergnuͤgen
erinnern werde, etliche gluͤkliche Jahre hin; unwiſſend
(und gluͤklich durch dieſe Unwiſſenheit) daß dieſer Zu-
ſtand nicht dauern koͤnne; weil die Leidenſchaften des
reiffenden Alters, und (wenn auch dieſe nicht waͤren)
die unvermeidliche Verwiklung in dem Wechſel der menſch-
lichen Dinge jene Fortdauer von innerlicher Heiterkeit
und Ruhe nicht geſtatten, welche nur ein Antheil ent-
coͤrperter Weſen ſeyn kan.

Drittes Capitel.
Die Liebe in verſchiedenen Geſtalten.

Jnzwiſchen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und
fieng nun an, mitten unter den angenehmen Empfin-
dungen, von denen meine Denkungs-Art und meine Be-

ſchaͤf-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0298" n="276"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
dringe und erfu&#x0364;lle, wie die Sonne einen ange&#x017F;tralten<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er-Tropfen. Jch u&#x0364;berredete mich, daß die unver-<lb/>
ru&#x0364;kte Be&#x017F;chauung der Weisheit und Gu&#x0364;te, welche &#x017F;o<lb/>
wol aus der be&#x017F;ondern Natur eines jeden Theils der<lb/>
Scho&#x0364;pfung, als aus dem Plan und der allgemeinen<lb/>
Oeconomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare<lb/>
Mittel &#x017F;ey, &#x017F;elb&#x017F;t wei&#x017F;e und gut zu werden. Jch<lb/>
brachte alle die&#x017F;e Grund&#x017F;a&#x0364;ze in Ausu&#x0364;bung. Jeder neue<lb/>
Gedanke, der &#x017F;ich in mir entwikelte, wurde zu einer<lb/>
Empfindung meines Herzens; und &#x017F;o lebte ich in einem<lb/>
&#x017F;tillen und lichtvollen Zu&#x017F;tand des Gemu&#x0364;ths, de&#x017F;&#x017F;en ich<lb/>
mich niemals anders als mit wehmu&#x0364;thigem Vergnu&#x0364;gen<lb/>
erinnern werde, etliche glu&#x0364;kliche Jahre hin; unwi&#x017F;&#x017F;end<lb/>
(und glu&#x0364;klich durch die&#x017F;e Unwi&#x017F;&#x017F;enheit) daß die&#x017F;er Zu-<lb/>
&#x017F;tand nicht dauern ko&#x0364;nne; weil die Leiden&#x017F;chaften des<lb/>
reiffenden Alters, und (wenn auch die&#x017F;e nicht wa&#x0364;ren)<lb/>
die unvermeidliche Verwiklung in dem Wech&#x017F;el der men&#x017F;ch-<lb/>
lichen Dinge jene Fortdauer von innerlicher Heiterkeit<lb/>
und Ruhe nicht ge&#x017F;tatten, welche nur ein Antheil ent-<lb/>
co&#x0364;rperter We&#x017F;en &#x017F;eyn kan.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Drittes Capitel.</hi><lb/>
Die Liebe in ver&#x017F;chiedenen Ge&#x017F;talten.</hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">J</hi>nzwi&#x017F;chen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und<lb/>
fieng nun an, mitten unter den angenehmen Empfin-<lb/>
dungen, von denen meine Denkungs-Art und meine Be-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;cha&#x0364;f-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0298] Agathon. dringe und erfuͤlle, wie die Sonne einen angeſtralten Waſſer-Tropfen. Jch uͤberredete mich, daß die unver- ruͤkte Beſchauung der Weisheit und Guͤte, welche ſo wol aus der beſondern Natur eines jeden Theils der Schoͤpfung, als aus dem Plan und der allgemeinen Oeconomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare Mittel ſey, ſelbſt weiſe und gut zu werden. Jch brachte alle dieſe Grundſaͤze in Ausuͤbung. Jeder neue Gedanke, der ſich in mir entwikelte, wurde zu einer Empfindung meines Herzens; und ſo lebte ich in einem ſtillen und lichtvollen Zuſtand des Gemuͤths, deſſen ich mich niemals anders als mit wehmuͤthigem Vergnuͤgen erinnern werde, etliche gluͤkliche Jahre hin; unwiſſend (und gluͤklich durch dieſe Unwiſſenheit) daß dieſer Zu- ſtand nicht dauern koͤnne; weil die Leidenſchaften des reiffenden Alters, und (wenn auch dieſe nicht waͤren) die unvermeidliche Verwiklung in dem Wechſel der menſch- lichen Dinge jene Fortdauer von innerlicher Heiterkeit und Ruhe nicht geſtatten, welche nur ein Antheil ent- coͤrperter Weſen ſeyn kan. Drittes Capitel. Die Liebe in verſchiedenen Geſtalten. Jnzwiſchen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und fieng nun an, mitten unter den angenehmen Empfin- dungen, von denen meine Denkungs-Art und meine Be- ſchaͤf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/298
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/298>, abgerufen am 24.11.2024.