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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, drittes Capitel.
schäftigungen unerschöpfliche Quellen zu seyn schienen, ein
Leeres in mir zu fühlen, welches sich durch keine
Jdeen ausfüllen lassen wollte. Jch sah die manchfalti-
gen Namen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre
Schönheiten hatten für mich etwas Herz-rührendes,
welches ich sonst nie auf diese Art empfunden hatte.
Der Gesang der Vögel im Hayne schien mir was zu
sagen, das er mir nie gesagt hatte, ohne daß ich
wußte, was es war; und die neu belaubten Wälder
schienen mich einzuladen, in ihren Schatten einer wol-
lüstigen Schwermuth nachzuhängen, von welcher ich
mitten in den erhabensten Betrachtungen wider meinen
Willen überwältiget wurde. Nach und nach verfiel ich
in eine weichliche Unthätigkeit: Mich däuchte, ich sey
bisher nur in der Einbildung glüklich gewesen; und
mein Herz sehnete sich nach einem Gegenstand, in wel-
chem ich jene idealische Vollkommenheiten würklich ge-
niessen möchte, an denen ich mich bisher nur wie an ei-
nem geträumten Gastmale geweidet hatte. Damals
zuerst stellten sich mir die Reizungen der Freundschaft
in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit dar:
Ein Freund (bildete ich mir ein) ein Freund würde
diese geheime Sehnsucht meines Herzens befriedigen.
Meine Phantasie mahlte sich einen Pylades aus, und
mein verlangendes Herz bekränzte dieses schöne Bild mit
allem, was mir das Liebenswürdigste schien, selbst mit
jenen äusserlichen Annehmlichkeiten, welche in meinem
System den natürlichen Schmuk der Tugend ausmach-
ten. Jch suchte diesen Freund unter der blühenden Ju-

gend,
S 3

Siebentes Buch, drittes Capitel.
ſchaͤftigungen unerſchoͤpfliche Quellen zu ſeyn ſchienen, ein
Leeres in mir zu fuͤhlen, welches ſich durch keine
Jdeen ausfuͤllen laſſen wollte. Jch ſah die manchfalti-
gen Namen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre
Schoͤnheiten hatten fuͤr mich etwas Herz-ruͤhrendes,
welches ich ſonſt nie auf dieſe Art empfunden hatte.
Der Geſang der Voͤgel im Hayne ſchien mir was zu
ſagen, das er mir nie geſagt hatte, ohne daß ich
wußte, was es war; und die neu belaubten Waͤlder
ſchienen mich einzuladen, in ihren Schatten einer wol-
luͤſtigen Schwermuth nachzuhaͤngen, von welcher ich
mitten in den erhabenſten Betrachtungen wider meinen
Willen uͤberwaͤltiget wurde. Nach und nach verfiel ich
in eine weichliche Unthaͤtigkeit: Mich daͤuchte, ich ſey
bisher nur in der Einbildung gluͤklich geweſen; und
mein Herz ſehnete ſich nach einem Gegenſtand, in wel-
chem ich jene idealiſche Vollkommenheiten wuͤrklich ge-
nieſſen moͤchte, an denen ich mich bisher nur wie an ei-
nem getraͤumten Gaſtmale geweidet hatte. Damals
zuerſt ſtellten ſich mir die Reizungen der Freundſchaft
in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit dar:
Ein Freund (bildete ich mir ein) ein Freund wuͤrde
dieſe geheime Sehnſucht meines Herzens befriedigen.
Meine Phantaſie mahlte ſich einen Pylades aus, und
mein verlangendes Herz bekraͤnzte dieſes ſchoͤne Bild mit
allem, was mir das Liebenswuͤrdigſte ſchien, ſelbſt mit
jenen aͤuſſerlichen Annehmlichkeiten, welche in meinem
Syſtem den natuͤrlichen Schmuk der Tugend ausmach-
ten. Jch ſuchte dieſen Freund unter der bluͤhenden Ju-

gend,
S 3
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[277/0299] Siebentes Buch, drittes Capitel. ſchaͤftigungen unerſchoͤpfliche Quellen zu ſeyn ſchienen, ein Leeres in mir zu fuͤhlen, welches ſich durch keine Jdeen ausfuͤllen laſſen wollte. Jch ſah die manchfalti- gen Namen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre Schoͤnheiten hatten fuͤr mich etwas Herz-ruͤhrendes, welches ich ſonſt nie auf dieſe Art empfunden hatte. Der Geſang der Voͤgel im Hayne ſchien mir was zu ſagen, das er mir nie geſagt hatte, ohne daß ich wußte, was es war; und die neu belaubten Waͤlder ſchienen mich einzuladen, in ihren Schatten einer wol- luͤſtigen Schwermuth nachzuhaͤngen, von welcher ich mitten in den erhabenſten Betrachtungen wider meinen Willen uͤberwaͤltiget wurde. Nach und nach verfiel ich in eine weichliche Unthaͤtigkeit: Mich daͤuchte, ich ſey bisher nur in der Einbildung gluͤklich geweſen; und mein Herz ſehnete ſich nach einem Gegenſtand, in wel- chem ich jene idealiſche Vollkommenheiten wuͤrklich ge- nieſſen moͤchte, an denen ich mich bisher nur wie an ei- nem getraͤumten Gaſtmale geweidet hatte. Damals zuerſt ſtellten ſich mir die Reizungen der Freundſchaft in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit dar: Ein Freund (bildete ich mir ein) ein Freund wuͤrde dieſe geheime Sehnſucht meines Herzens befriedigen. Meine Phantaſie mahlte ſich einen Pylades aus, und mein verlangendes Herz bekraͤnzte dieſes ſchoͤne Bild mit allem, was mir das Liebenswuͤrdigſte ſchien, ſelbſt mit jenen aͤuſſerlichen Annehmlichkeiten, welche in meinem Syſtem den natuͤrlichen Schmuk der Tugend ausmach- ten. Jch ſuchte dieſen Freund unter der bluͤhenden Ju- gend, S 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/299>, abgerufen am 24.11.2024.