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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
gend, welche mich umgab. Mehr als einmal betrog
mich mein Herz, ihn gefunden zu haben; aber eine
kurze Erfahrung machte mich meines Jrrthums bald ge-
wahr werden. Unter einer so grossen Anzahl von aus-
erlesenen Jünglingen, welche die Liverey des Gottes
zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die Na-
tur so vollkommen mit mir zusammen gestimmt hatte,
als die Spizfindigkeit meiner Begriffe es erfoderte.

Um diese Zeit geschah es, daß ich das Unglük hatte,
der Ober-Priesterin eine Neignug einzuflössen, welche
mit ihrem geheiligten Stande und mit ihrem Alter ei-
nen gleich starken Absaz machte; sie hatte mich schon
seit geraumer Zeit mit einer vorzüglichen Gütigkeit an-
gesehen, welche ich, so lang ich konnte, einer mütter-
lichen Gesinnung beymaß, und mit aller der Ehrerbie-
tung erwiederte, die ich der Vertrauten des Delphischen
Gottes schuldig war. Stelle dir vor, schöne Danae,
was für ein Modell zu einer Bild-Säule des Erstau-
nens ich abgegeben hätte, als sich eine so ehrwürdige
Person herabließ, mir zu entdeken, daß alle Vertrau-
lichkeit, die ich zwischen ihr und dem Apollo voraus-
sezte, nicht zureiche, sie über die Schwachheiten der
gemeinsten Erden-Töchter hinwegzusezen. Die gute
Dame war bereits in demjenigen Alter, worinn es lä-
cherlich wäre, das Herz eines Mannes von einiger Er-
fahrung einer jungen Nebenbuhlerin streitig machen zu
wollen. Allein einem Neuling, wofür sie mich mit gu-
tem Grund ansah, die ersten Unterweisungen zu geben,

dazu

Agathon.
gend, welche mich umgab. Mehr als einmal betrog
mich mein Herz, ihn gefunden zu haben; aber eine
kurze Erfahrung machte mich meines Jrrthums bald ge-
wahr werden. Unter einer ſo groſſen Anzahl von aus-
erleſenen Juͤnglingen, welche die Liverey des Gottes
zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die Na-
tur ſo vollkommen mit mir zuſammen geſtimmt hatte,
als die Spizfindigkeit meiner Begriffe es erfoderte.

Um dieſe Zeit geſchah es, daß ich das Ungluͤk hatte,
der Ober-Prieſterin eine Neignug einzufloͤſſen, welche
mit ihrem geheiligten Stande und mit ihrem Alter ei-
nen gleich ſtarken Abſaz machte; ſie hatte mich ſchon
ſeit geraumer Zeit mit einer vorzuͤglichen Guͤtigkeit an-
geſehen, welche ich, ſo lang ich konnte, einer muͤtter-
lichen Geſinnung beymaß, und mit aller der Ehrerbie-
tung erwiederte, die ich der Vertrauten des Delphiſchen
Gottes ſchuldig war. Stelle dir vor, ſchoͤne Danae,
was fuͤr ein Modell zu einer Bild-Saͤule des Erſtau-
nens ich abgegeben haͤtte, als ſich eine ſo ehrwuͤrdige
Perſon herabließ, mir zu entdeken, daß alle Vertrau-
lichkeit, die ich zwiſchen ihr und dem Apollo voraus-
ſezte, nicht zureiche, ſie uͤber die Schwachheiten der
gemeinſten Erden-Toͤchter hinwegzuſezen. Die gute
Dame war bereits in demjenigen Alter, worinn es laͤ-
cherlich waͤre, das Herz eines Mannes von einiger Er-
fahrung einer jungen Nebenbuhlerin ſtreitig machen zu
wollen. Allein einem Neuling, wofuͤr ſie mich mit gu-
tem Grund anſah, die erſten Unterweiſungen zu geben,

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[278/0300] Agathon. gend, welche mich umgab. Mehr als einmal betrog mich mein Herz, ihn gefunden zu haben; aber eine kurze Erfahrung machte mich meines Jrrthums bald ge- wahr werden. Unter einer ſo groſſen Anzahl von aus- erleſenen Juͤnglingen, welche die Liverey des Gottes zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die Na- tur ſo vollkommen mit mir zuſammen geſtimmt hatte, als die Spizfindigkeit meiner Begriffe es erfoderte. Um dieſe Zeit geſchah es, daß ich das Ungluͤk hatte, der Ober-Prieſterin eine Neignug einzufloͤſſen, welche mit ihrem geheiligten Stande und mit ihrem Alter ei- nen gleich ſtarken Abſaz machte; ſie hatte mich ſchon ſeit geraumer Zeit mit einer vorzuͤglichen Guͤtigkeit an- geſehen, welche ich, ſo lang ich konnte, einer muͤtter- lichen Geſinnung beymaß, und mit aller der Ehrerbie- tung erwiederte, die ich der Vertrauten des Delphiſchen Gottes ſchuldig war. Stelle dir vor, ſchoͤne Danae, was fuͤr ein Modell zu einer Bild-Saͤule des Erſtau- nens ich abgegeben haͤtte, als ſich eine ſo ehrwuͤrdige Perſon herabließ, mir zu entdeken, daß alle Vertrau- lichkeit, die ich zwiſchen ihr und dem Apollo voraus- ſezte, nicht zureiche, ſie uͤber die Schwachheiten der gemeinſten Erden-Toͤchter hinwegzuſezen. Die gute Dame war bereits in demjenigen Alter, worinn es laͤ- cherlich waͤre, das Herz eines Mannes von einiger Er- fahrung einer jungen Nebenbuhlerin ſtreitig machen zu wollen. Allein einem Neuling, wofuͤr ſie mich mit gu- tem Grund anſah, die erſten Unterweiſungen zu geben, dazu

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/300>, abgerufen am 24.11.2024.