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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, drittes Capitel.
Liebes-Gottes zum Gegenstande der Unterredung zu
machen. Sie schien der Meynung derjenigen günstig
zu seyn, welche behaupten, daß der Gedanke, einer
so mächtigen Gottheit widerstehen zu wollen, nur in ei-
ner vermessenen und ruchlosen Seele gebohren werden
könne. Jch pflichtete ihr bey, behauptete aber, daß
die meisten in den Begriffen, welche sie sich von diesem
Gotte machten, der grossen Pflicht, von der Gottheit
nur das Würdigste und Vollkommenste zu denken, sehr
zu nahe träten; und daß die Dichter durch die allzusinn-
liche Ausbildung ihrer allegorischen Fabeln in diesem
Stüke sich keines geringen Vergehens schuldig gemacht
hätten. Unvermerkt schwazte ich mich in einen Enthu-
siasmus hinein, in welchem ich, nach den Grundsäzen
meiner geheimnißreichen Philosophie, von der intellec-
tualischen Liebe, von der Liebe welche der Weg zum
Anschauen des wesentlichen Schönen ist, von der Liebe
welche die geistigen Flügel der Seele entwikelt, sie mit
jeder Tugend und Vollkommenheit schwellt, und zulezt
durch die Vereinigung mit dem Urbild und Urquell des
Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und unverän-
derlicher Wonne hineinzieht, worinn sie gänzlich ver-
schlungen und zu gleicher Zeit vernichtigt und vergöttert
wird -- so erhabne, mir selbst meiner Einbildung
nach sehr deutliche, der schönen Priesterin aber so un-
verständliche Dinge sagte, daß sie in eben der Propor-
tion, nach welcher sich meine Einbildungs-Kraft dabey
erwärmte, nach und nach davon eingeschläfert wurde.
Jn der That konnte im Prospect eines so schönen Bu-

sens
[Agath. I. Th.] T

Siebentes Buch, drittes Capitel.
Liebes-Gottes zum Gegenſtande der Unterredung zu
machen. Sie ſchien der Meynung derjenigen guͤnſtig
zu ſeyn, welche behaupten, daß der Gedanke, einer
ſo maͤchtigen Gottheit widerſtehen zu wollen, nur in ei-
ner vermeſſenen und ruchloſen Seele gebohren werden
koͤnne. Jch pflichtete ihr bey, behauptete aber, daß
die meiſten in den Begriffen, welche ſie ſich von dieſem
Gotte machten, der groſſen Pflicht, von der Gottheit
nur das Wuͤrdigſte und Vollkommenſte zu denken, ſehr
zu nahe traͤten; und daß die Dichter durch die allzuſinn-
liche Ausbildung ihrer allegoriſchen Fabeln in dieſem
Stuͤke ſich keines geringen Vergehens ſchuldig gemacht
haͤtten. Unvermerkt ſchwazte ich mich in einen Enthu-
ſiaſmus hinein, in welchem ich, nach den Grundſaͤzen
meiner geheimnißreichen Philoſophie, von der intellec-
tualiſchen Liebe, von der Liebe welche der Weg zum
Anſchauen des weſentlichen Schoͤnen iſt, von der Liebe
welche die geiſtigen Fluͤgel der Seele entwikelt, ſie mit
jeder Tugend und Vollkommenheit ſchwellt, und zulezt
durch die Vereinigung mit dem Urbild und Urquell des
Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und unveraͤn-
derlicher Wonne hineinzieht, worinn ſie gaͤnzlich ver-
ſchlungen und zu gleicher Zeit vernichtigt und vergoͤttert
wird — ſo erhabne, mir ſelbſt meiner Einbildung
nach ſehr deutliche, der ſchoͤnen Prieſterin aber ſo un-
verſtaͤndliche Dinge ſagte, daß ſie in eben der Propor-
tion, nach welcher ſich meine Einbildungs-Kraft dabey
erwaͤrmte, nach und nach davon eingeſchlaͤfert wurde.
Jn der That konnte im Proſpect eines ſo ſchoͤnen Bu-

ſens
[Agath. I. Th.] T
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[289/0311] Siebentes Buch, drittes Capitel. Liebes-Gottes zum Gegenſtande der Unterredung zu machen. Sie ſchien der Meynung derjenigen guͤnſtig zu ſeyn, welche behaupten, daß der Gedanke, einer ſo maͤchtigen Gottheit widerſtehen zu wollen, nur in ei- ner vermeſſenen und ruchloſen Seele gebohren werden koͤnne. Jch pflichtete ihr bey, behauptete aber, daß die meiſten in den Begriffen, welche ſie ſich von dieſem Gotte machten, der groſſen Pflicht, von der Gottheit nur das Wuͤrdigſte und Vollkommenſte zu denken, ſehr zu nahe traͤten; und daß die Dichter durch die allzuſinn- liche Ausbildung ihrer allegoriſchen Fabeln in dieſem Stuͤke ſich keines geringen Vergehens ſchuldig gemacht haͤtten. Unvermerkt ſchwazte ich mich in einen Enthu- ſiaſmus hinein, in welchem ich, nach den Grundſaͤzen meiner geheimnißreichen Philoſophie, von der intellec- tualiſchen Liebe, von der Liebe welche der Weg zum Anſchauen des weſentlichen Schoͤnen iſt, von der Liebe welche die geiſtigen Fluͤgel der Seele entwikelt, ſie mit jeder Tugend und Vollkommenheit ſchwellt, und zulezt durch die Vereinigung mit dem Urbild und Urquell des Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und unveraͤn- derlicher Wonne hineinzieht, worinn ſie gaͤnzlich ver- ſchlungen und zu gleicher Zeit vernichtigt und vergoͤttert wird — ſo erhabne, mir ſelbſt meiner Einbildung nach ſehr deutliche, der ſchoͤnen Prieſterin aber ſo un- verſtaͤndliche Dinge ſagte, daß ſie in eben der Propor- tion, nach welcher ſich meine Einbildungs-Kraft dabey erwaͤrmte, nach und nach davon eingeſchlaͤfert wurde. Jn der That konnte im Proſpect eines ſo ſchoͤnen Bu- ſens [Agath. I. Th.] T

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/311>, abgerufen am 16.06.2024.