Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
sens, als ich vor mir sahe, nichts seltsamers seyn, als
eine Lob-Rede auf die intellectualische Liebe; auch gab
die betrogne Pythia nach einer solchen Probe alle Hoff-
nung auf, mich, diesen Abend wenigstens, zu einer
natürlichen Art zu denken und zu lieben herumzustimmen.
Sie entließ mich alsobald darauf, nachdem sie mir,
wiewol auf eine ziemlich räthselhafte Art, zu vernehmen
gegeben hatte, daß sie besondere Ursachen habe, sich
meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Kost-
gängers des Apollo. Jch verstuhnd aus dem, was sie
mir davon sagte, so viel, daß sie eine nahe Anverwand-
tin meines mir selbst noch unbekannten Vaters sey; daß
es ihr vielleicht bald erlaubt seyn werde, mir das Ge-
heimniß meiner Geburt zu entdeken; und daß ich es
allein diesem nähern Verhältniß zu zuschreiben habe,
wenn sie mich durch eine Freundschaft unterscheide, wel-
che mich, ohne diesen Umstand, vielleicht hätte befrem-
den können. Diese Eröffnung, an deren Wahrheit
mich ihre Mine nicht zweifeln ließ, hatte die gedoppelte
Würkung -- mich zu bereden, daß ich mich in
meinen Gedanken von ihren Gesinnungen betrogen ha-
ben könne -- und sie auf einmal zu einem interes-
santen Gegenstande für mein Herz zu machen. Jn der
That fieng ich, von dem Augenblik, da ich hörte, daß
sie mit meinem Vater befreundet sey, an, sie mit ganz
andern Augen anzusehen; und vielleicht würde sie von
den Dispositionen, in welche ich dadurch gesezt wurde,
in kurzer Zeit mehr Vortheil haben ziehen können, als
von allen den Kunstgriffen, womit sie meine Sinnen

hatte

Agathon.
ſens, als ich vor mir ſahe, nichts ſeltſamers ſeyn, als
eine Lob-Rede auf die intellectualiſche Liebe; auch gab
die betrogne Pythia nach einer ſolchen Probe alle Hoff-
nung auf, mich, dieſen Abend wenigſtens, zu einer
natuͤrlichen Art zu denken und zu lieben herumzuſtimmen.
Sie entließ mich alſobald darauf, nachdem ſie mir,
wiewol auf eine ziemlich raͤthſelhafte Art, zu vernehmen
gegeben hatte, daß ſie beſondere Urſachen habe, ſich
meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Koſt-
gaͤngers des Apollo. Jch verſtuhnd aus dem, was ſie
mir davon ſagte, ſo viel, daß ſie eine nahe Anverwand-
tin meines mir ſelbſt noch unbekannten Vaters ſey; daß
es ihr vielleicht bald erlaubt ſeyn werde, mir das Ge-
heimniß meiner Geburt zu entdeken; und daß ich es
allein dieſem naͤhern Verhaͤltniß zu zuſchreiben habe,
wenn ſie mich durch eine Freundſchaft unterſcheide, wel-
che mich, ohne dieſen Umſtand, vielleicht haͤtte befrem-
den koͤnnen. Dieſe Eroͤffnung, an deren Wahrheit
mich ihre Mine nicht zweifeln ließ, hatte die gedoppelte
Wuͤrkung — mich zu bereden, daß ich mich in
meinen Gedanken von ihren Geſinnungen betrogen ha-
ben koͤnne — und ſie auf einmal zu einem intereſ-
ſanten Gegenſtande fuͤr mein Herz zu machen. Jn der
That fieng ich, von dem Augenblik, da ich hoͤrte, daß
ſie mit meinem Vater befreundet ſey, an, ſie mit ganz
andern Augen anzuſehen; und vielleicht wuͤrde ſie von
den Diſpoſitionen, in welche ich dadurch geſezt wurde,
in kurzer Zeit mehr Vortheil haben ziehen koͤnnen, als
von allen den Kunſtgriffen, womit ſie meine Sinnen

hatte
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0312" n="290"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
&#x017F;ens, als ich vor mir &#x017F;ahe, nichts &#x017F;elt&#x017F;amers &#x017F;eyn, als<lb/>
eine Lob-Rede auf die intellectuali&#x017F;che Liebe; auch gab<lb/>
die betrogne Pythia nach einer &#x017F;olchen Probe alle Hoff-<lb/>
nung auf, mich, die&#x017F;en Abend wenig&#x017F;tens, zu einer<lb/>
natu&#x0364;rlichen Art zu denken und zu lieben herumzu&#x017F;timmen.<lb/>
Sie entließ mich al&#x017F;obald darauf, nachdem &#x017F;ie mir,<lb/>
wiewol auf eine ziemlich ra&#x0364;th&#x017F;elhafte Art, zu vernehmen<lb/>
gegeben hatte, daß &#x017F;ie be&#x017F;ondere Ur&#x017F;achen habe, &#x017F;ich<lb/>
meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Ko&#x017F;t-<lb/>
ga&#x0364;ngers des Apollo. Jch ver&#x017F;tuhnd aus dem, was &#x017F;ie<lb/>
mir davon &#x017F;agte, &#x017F;o viel, daß &#x017F;ie eine nahe Anverwand-<lb/>
tin meines mir &#x017F;elb&#x017F;t noch unbekannten Vaters &#x017F;ey; daß<lb/>
es ihr vielleicht bald erlaubt &#x017F;eyn werde, mir das Ge-<lb/>
heimniß meiner Geburt zu entdeken; und daß ich es<lb/>
allein die&#x017F;em na&#x0364;hern Verha&#x0364;ltniß zu zu&#x017F;chreiben habe,<lb/>
wenn &#x017F;ie mich durch eine Freund&#x017F;chaft unter&#x017F;cheide, wel-<lb/>
che mich, ohne die&#x017F;en Um&#x017F;tand, vielleicht ha&#x0364;tte befrem-<lb/>
den ko&#x0364;nnen. Die&#x017F;e Ero&#x0364;ffnung, an deren Wahrheit<lb/>
mich ihre Mine nicht zweifeln ließ, hatte die gedoppelte<lb/>
Wu&#x0364;rkung &#x2014; mich zu bereden, daß ich mich in<lb/>
meinen Gedanken von ihren Ge&#x017F;innungen betrogen ha-<lb/>
ben ko&#x0364;nne &#x2014; und &#x017F;ie auf einmal zu einem intere&#x017F;-<lb/>
&#x017F;anten Gegen&#x017F;tande fu&#x0364;r mein Herz zu machen. Jn der<lb/>
That fieng ich, von dem Augenblik, da ich ho&#x0364;rte, daß<lb/>
&#x017F;ie mit meinem Vater befreundet &#x017F;ey, an, &#x017F;ie mit ganz<lb/>
andern Augen anzu&#x017F;ehen; und vielleicht wu&#x0364;rde &#x017F;ie von<lb/>
den Di&#x017F;po&#x017F;itionen, in welche ich dadurch ge&#x017F;ezt wurde,<lb/>
in kurzer Zeit mehr Vortheil haben ziehen ko&#x0364;nnen, als<lb/>
von allen den Kun&#x017F;tgriffen, womit &#x017F;ie meine Sinnen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">hatte</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[290/0312] Agathon. ſens, als ich vor mir ſahe, nichts ſeltſamers ſeyn, als eine Lob-Rede auf die intellectualiſche Liebe; auch gab die betrogne Pythia nach einer ſolchen Probe alle Hoff- nung auf, mich, dieſen Abend wenigſtens, zu einer natuͤrlichen Art zu denken und zu lieben herumzuſtimmen. Sie entließ mich alſobald darauf, nachdem ſie mir, wiewol auf eine ziemlich raͤthſelhafte Art, zu vernehmen gegeben hatte, daß ſie beſondere Urſachen habe, ſich meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Koſt- gaͤngers des Apollo. Jch verſtuhnd aus dem, was ſie mir davon ſagte, ſo viel, daß ſie eine nahe Anverwand- tin meines mir ſelbſt noch unbekannten Vaters ſey; daß es ihr vielleicht bald erlaubt ſeyn werde, mir das Ge- heimniß meiner Geburt zu entdeken; und daß ich es allein dieſem naͤhern Verhaͤltniß zu zuſchreiben habe, wenn ſie mich durch eine Freundſchaft unterſcheide, wel- che mich, ohne dieſen Umſtand, vielleicht haͤtte befrem- den koͤnnen. Dieſe Eroͤffnung, an deren Wahrheit mich ihre Mine nicht zweifeln ließ, hatte die gedoppelte Wuͤrkung — mich zu bereden, daß ich mich in meinen Gedanken von ihren Geſinnungen betrogen ha- ben koͤnne — und ſie auf einmal zu einem intereſ- ſanten Gegenſtande fuͤr mein Herz zu machen. Jn der That fieng ich, von dem Augenblik, da ich hoͤrte, daß ſie mit meinem Vater befreundet ſey, an, ſie mit ganz andern Augen anzuſehen; und vielleicht wuͤrde ſie von den Diſpoſitionen, in welche ich dadurch geſezt wurde, in kurzer Zeit mehr Vortheil haben ziehen koͤnnen, als von allen den Kunſtgriffen, womit ſie meine Sinnen hatte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/312
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/312>, abgerufen am 01.06.2024.