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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, viertes Capitel.
von dem äussersten Grade des Schmerzens zu der äusser-
sten Freude über. Jch wand den Glük-weissagenden
Blumen-Kranz um mich herum, nachdem ich die unsicht-
baren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden
hatten, auf jeder Blume weggeküßt hatte. Den folgen-
den Abend wurde mir jeder Augenblik bis zur bestimm-
ten Zeit ein Jahrhundert. Jch gieng eine halbe Stunde
früher, den guten Nymphen zu danken, daß sie unsere
Liebe in ihren Schuz genommen hatten. Endlich glaubte
ich, Psyche zwischen den Myrthen Heken hervorkommen
zu sehen. Die Nacht war nur durch den Schimmer
der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte die gewöhnli-
che Kleidung der Psyche, und war von dem ersten Rau-
schen ihrer Annäherung schon zu sehr entzükt, um ge-
wahr zu werden, daß die Gestalt, die sich mir näherte,
mehr von dem üppigen Contour einer Bacchantin als von
der jungfräulichen Geschmeidigkeit meiner Freundin
hatte. Wir flogen einander mit gleichem Verlangen in
die Arme. Die sprachlose Trunkenheit des ersten Au-
genbliks verstattet nicht, Bemerkungen zu machen; aber
es währte doch nicht lange, bis ich nothwendig fühlen
mußte, daß ich mit einer Heftigkeit, welche mit der
unschuldigen Zärtlichkeit einer Psyche den stärksten Ab-
saz machte, an einen kaum verhüllten und ungestüm klo-
pfenden Busen gedrükt wurde. -- Das konnte nicht
Psyche seyn. -- Jch wollte mich aus ihren Armen
loswinden; aber sie verdoppelte die Stärke, womit sie
mich umschlang, zugleich mit ihren wollüstigen Lieb-
kosungen; und da ich nun auf einmal mit einem Ent-

sezen,
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Siebentes Buch, viertes Capitel.
von dem aͤuſſerſten Grade des Schmerzens zu der aͤuſſer-
ſten Freude uͤber. Jch wand den Gluͤk-weiſſagenden
Blumen-Kranz um mich herum, nachdem ich die unſicht-
baren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden
hatten, auf jeder Blume weggekuͤßt hatte. Den folgen-
den Abend wurde mir jeder Augenblik bis zur beſtimm-
ten Zeit ein Jahrhundert. Jch gieng eine halbe Stunde
fruͤher, den guten Nymphen zu danken, daß ſie unſere
Liebe in ihren Schuz genommen hatten. Endlich glaubte
ich, Pſyche zwiſchen den Myrthen Heken hervorkommen
zu ſehen. Die Nacht war nur durch den Schimmer
der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte die gewoͤhnli-
che Kleidung der Pſyche, und war von dem erſten Rau-
ſchen ihrer Annaͤherung ſchon zu ſehr entzuͤkt, um ge-
wahr zu werden, daß die Geſtalt, die ſich mir naͤherte,
mehr von dem uͤppigen Contour einer Bacchantin als von
der jungfraͤulichen Geſchmeidigkeit meiner Freundin
hatte. Wir flogen einander mit gleichem Verlangen in
die Arme. Die ſprachloſe Trunkenheit des erſten Au-
genbliks verſtattet nicht, Bemerkungen zu machen; aber
es waͤhrte doch nicht lange, bis ich nothwendig fuͤhlen
mußte, daß ich mit einer Heftigkeit, welche mit der
unſchuldigen Zaͤrtlichkeit einer Pſyche den ſtaͤrkſten Ab-
ſaz machte, an einen kaum verhuͤllten und ungeſtuͤm klo-
pfenden Buſen gedruͤkt wurde. — Das konnte nicht
Pſyche ſeyn. — Jch wollte mich aus ihren Armen
loswinden; aber ſie verdoppelte die Staͤrke, womit ſie
mich umſchlang, zugleich mit ihren wolluͤſtigen Lieb-
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ſezen,
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[309/0331] Siebentes Buch, viertes Capitel. von dem aͤuſſerſten Grade des Schmerzens zu der aͤuſſer- ſten Freude uͤber. Jch wand den Gluͤk-weiſſagenden Blumen-Kranz um mich herum, nachdem ich die unſicht- baren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden hatten, auf jeder Blume weggekuͤßt hatte. Den folgen- den Abend wurde mir jeder Augenblik bis zur beſtimm- ten Zeit ein Jahrhundert. Jch gieng eine halbe Stunde fruͤher, den guten Nymphen zu danken, daß ſie unſere Liebe in ihren Schuz genommen hatten. Endlich glaubte ich, Pſyche zwiſchen den Myrthen Heken hervorkommen zu ſehen. Die Nacht war nur durch den Schimmer der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte die gewoͤhnli- che Kleidung der Pſyche, und war von dem erſten Rau- ſchen ihrer Annaͤherung ſchon zu ſehr entzuͤkt, um ge- wahr zu werden, daß die Geſtalt, die ſich mir naͤherte, mehr von dem uͤppigen Contour einer Bacchantin als von der jungfraͤulichen Geſchmeidigkeit meiner Freundin hatte. Wir flogen einander mit gleichem Verlangen in die Arme. Die ſprachloſe Trunkenheit des erſten Au- genbliks verſtattet nicht, Bemerkungen zu machen; aber es waͤhrte doch nicht lange, bis ich nothwendig fuͤhlen mußte, daß ich mit einer Heftigkeit, welche mit der unſchuldigen Zaͤrtlichkeit einer Pſyche den ſtaͤrkſten Ab- ſaz machte, an einen kaum verhuͤllten und ungeſtuͤm klo- pfenden Buſen gedruͤkt wurde. — Das konnte nicht Pſyche ſeyn. — Jch wollte mich aus ihren Armen loswinden; aber ſie verdoppelte die Staͤrke, womit ſie mich umſchlang, zugleich mit ihren wolluͤſtigen Lieb- koſungen; und da ich nun auf einmal mit einem Ent- ſezen, U 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/331>, abgerufen am 24.11.2024.