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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
sachen habe verhindert werden können, ihr Wort zu
halten, noch zurük, einen unbesonnenen Schritt zu
thun, welcher ein bloß eingebildetes Uebel würklich und
unheilbar hätte machen können. Vielleicht (dachte ich)
weiß die Priesterin noch nichts von unserm Geheimniß;
und wie unselig wär' ich in diesem Fall, wenn ich
selbst der Verräther davon wäre? Dieser Gedanke
führte mich zum vierten mal in den Ruhe-Plaz der
Diana. Nachdem ich wol zwoo Stunden vergebens
gewartet hatte, warf ich mich, in einer Betäubung
von Schmerz und Verzweiflung, zu den Füssen einer von
den Nymphen hin. Jch lag eine Weile, ohne meiner
selbst mächtig zu seyn. Als ich mich wieder erholt hatte,
sah ich einen frischen Blumen-Kranz um den Hals und
die Arme einer von den Nymphen gewunden; ich sprang
auf, um genauer zu erkundigen, was dieses bedeuten
möchte, und fand ein Briefchen an den Kranz geheftet,
worinn mir Psyche meldete: daß ich sie in der folgen-
den Nacht um eine bestimmte Stunde unfehlbar an
diesem Plaz antreffen würde; sie versparete es auf diese
Besprechung, mir zu sagen, durch was für Zufälle sie
diese Zeit über verhindert worden, mich zu sehen, oder
mir Nachricht von ihr zu geben; ich dürfte aber voll-
kommen ruhig und gewiß seyn, daß die Priesterin nichts
von unserer Bekanntschaft wisse. Die heftige Begierde,
womit ich wünschte, daß dieses Briefchen von Psyche
geschrieben seyn möchte, ließ mich nicht daran denken,
ein Mißtrauen darein zu sezen, ungeachtet mir ihre
Handschrift unbekannt war. Jch gieng also plözlich

von

Agathon.
ſachen habe verhindert werden koͤnnen, ihr Wort zu
halten, noch zuruͤk, einen unbeſonnenen Schritt zu
thun, welcher ein bloß eingebildetes Uebel wuͤrklich und
unheilbar haͤtte machen koͤnnen. Vielleicht (dachte ich)
weiß die Prieſterin noch nichts von unſerm Geheimniß;
und wie unſelig waͤr’ ich in dieſem Fall, wenn ich
ſelbſt der Verraͤther davon waͤre? Dieſer Gedanke
fuͤhrte mich zum vierten mal in den Ruhe-Plaz der
Diana. Nachdem ich wol zwoo Stunden vergebens
gewartet hatte, warf ich mich, in einer Betaͤubung
von Schmerz und Verzweiflung, zu den Fuͤſſen einer von
den Nymphen hin. Jch lag eine Weile, ohne meiner
ſelbſt maͤchtig zu ſeyn. Als ich mich wieder erholt hatte,
ſah ich einen friſchen Blumen-Kranz um den Hals und
die Arme einer von den Nymphen gewunden; ich ſprang
auf, um genauer zu erkundigen, was dieſes bedeuten
moͤchte, und fand ein Briefchen an den Kranz geheftet,
worinn mir Pſyche meldete: daß ich ſie in der folgen-
den Nacht um eine beſtimmte Stunde unfehlbar an
dieſem Plaz antreffen wuͤrde; ſie verſparete es auf dieſe
Beſprechung, mir zu ſagen, durch was fuͤr Zufaͤlle ſie
dieſe Zeit uͤber verhindert worden, mich zu ſehen, oder
mir Nachricht von ihr zu geben; ich duͤrfte aber voll-
kommen ruhig und gewiß ſeyn, daß die Prieſterin nichts
von unſerer Bekanntſchaft wiſſe. Die heftige Begierde,
womit ich wuͤnſchte, daß dieſes Briefchen von Pſyche
geſchrieben ſeyn moͤchte, ließ mich nicht daran denken,
ein Mißtrauen darein zu ſezen, ungeachtet mir ihre
Handſchrift unbekannt war. Jch gieng alſo ploͤzlich

von
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[308/0330] Agathon. ſachen habe verhindert werden koͤnnen, ihr Wort zu halten, noch zuruͤk, einen unbeſonnenen Schritt zu thun, welcher ein bloß eingebildetes Uebel wuͤrklich und unheilbar haͤtte machen koͤnnen. Vielleicht (dachte ich) weiß die Prieſterin noch nichts von unſerm Geheimniß; und wie unſelig waͤr’ ich in dieſem Fall, wenn ich ſelbſt der Verraͤther davon waͤre? Dieſer Gedanke fuͤhrte mich zum vierten mal in den Ruhe-Plaz der Diana. Nachdem ich wol zwoo Stunden vergebens gewartet hatte, warf ich mich, in einer Betaͤubung von Schmerz und Verzweiflung, zu den Fuͤſſen einer von den Nymphen hin. Jch lag eine Weile, ohne meiner ſelbſt maͤchtig zu ſeyn. Als ich mich wieder erholt hatte, ſah ich einen friſchen Blumen-Kranz um den Hals und die Arme einer von den Nymphen gewunden; ich ſprang auf, um genauer zu erkundigen, was dieſes bedeuten moͤchte, und fand ein Briefchen an den Kranz geheftet, worinn mir Pſyche meldete: daß ich ſie in der folgen- den Nacht um eine beſtimmte Stunde unfehlbar an dieſem Plaz antreffen wuͤrde; ſie verſparete es auf dieſe Beſprechung, mir zu ſagen, durch was fuͤr Zufaͤlle ſie dieſe Zeit uͤber verhindert worden, mich zu ſehen, oder mir Nachricht von ihr zu geben; ich duͤrfte aber voll- kommen ruhig und gewiß ſeyn, daß die Prieſterin nichts von unſerer Bekanntſchaft wiſſe. Die heftige Begierde, womit ich wuͤnſchte, daß dieſes Briefchen von Pſyche geſchrieben ſeyn moͤchte, ließ mich nicht daran denken, ein Mißtrauen darein zu ſezen, ungeachtet mir ihre Handſchrift unbekannt war. Jch gieng alſo ploͤzlich von

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/330>, abgerufen am 24.11.2024.