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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
worauf ich einen Anspruch machen konnte als ein Grab,
wenn mich die Last des Elends endlich aufgerieben ha-
ben würde; und selbst dieses konnte ich nur von der
Frömmigkeit irgend eines mitleidigen Wanderers hoffen.
Diese melancholischen Gedanken wurden durch die Erin-
nerung meiner vergangnen Glükseligkeit, und durch das
Bewußtseyn, daß ich mein Elend durch keine Bosheit
des Herzens oder irgend eine entehrende Uebelthat ver-
dient hätte, noch empfindlicher gemacht. Jch sah mit
thränenvollen Augen um mich her, als ob ich ein We-
sen in der Natur suchen wollte, dem mein Zustand zu
Herzen gienge. Jn diesem Augenblik erfuhr ich den
wohlthätigen Einfluß dieser glükseligen Schwärmerey,
welche die Natur dem empfindlichsten Theil der Sterb-
lichen, zu einem Gegenmittel gegen die Uebel, denen
sie durch die Schwäche ihres Herzens ausgesezt sind,
gegeben zu haben scheint. Jch wandte mich an die Un-
sterblichen, mit denen meine Seele schon so lange in
einer Art von unsichtbarer Gemeinschaft gestanden war.
Der Gedanke daß sie die Zeugen meines Lebens, mei-
ner Gedanken, meiner geheimsten Neigungen gewesen
seyen, goß lindernden Trost in mein verwundetes Herz.
Jch sahe meine geliebte Psyche unter ihre Flügel gesi-
chert. Nein, rief ich aus, die Unschuld kan nicht un-
glüklich seyn, noch das Laster seine Absichten ganz er-
halten! Jn diesem majestätischen All, worinn Sphä-
ren und Atomen sich mit gleicher Unterwürfigkeit nach
den Winken einer weisen und wohlthätigen Macht be-
wegen, wär es Unsinn und Gottlosigkeit, sich einer

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Agathon.
worauf ich einen Anſpruch machen konnte als ein Grab,
wenn mich die Laſt des Elends endlich aufgerieben ha-
ben wuͤrde; und ſelbſt dieſes konnte ich nur von der
Froͤmmigkeit irgend eines mitleidigen Wanderers hoffen.
Dieſe melancholiſchen Gedanken wurden durch die Erin-
nerung meiner vergangnen Gluͤkſeligkeit, und durch das
Bewußtſeyn, daß ich mein Elend durch keine Bosheit
des Herzens oder irgend eine entehrende Uebelthat ver-
dient haͤtte, noch empfindlicher gemacht. Jch ſah mit
thraͤnenvollen Augen um mich her, als ob ich ein We-
ſen in der Natur ſuchen wollte, dem mein Zuſtand zu
Herzen gienge. Jn dieſem Augenblik erfuhr ich den
wohlthaͤtigen Einfluß dieſer gluͤkſeligen Schwaͤrmerey,
welche die Natur dem empfindlichſten Theil der Sterb-
lichen, zu einem Gegenmittel gegen die Uebel, denen
ſie durch die Schwaͤche ihres Herzens ausgeſezt ſind,
gegeben zu haben ſcheint. Jch wandte mich an die Un-
ſterblichen, mit denen meine Seele ſchon ſo lange in
einer Art von unſichtbarer Gemeinſchaft geſtanden war.
Der Gedanke daß ſie die Zeugen meines Lebens, mei-
ner Gedanken, meiner geheimſten Neigungen geweſen
ſeyen, goß lindernden Troſt in mein verwundetes Herz.
Jch ſahe meine geliebte Pſyche unter ihre Fluͤgel geſi-
chert. Nein, rief ich aus, die Unſchuld kan nicht un-
gluͤklich ſeyn, noch das Laſter ſeine Abſichten ganz er-
halten! Jn dieſem majeſtaͤtiſchen All, worinn Sphaͤ-
ren und Atomen ſich mit gleicher Unterwuͤrfigkeit nach
den Winken einer weiſen und wohlthaͤtigen Macht be-
wegen, waͤr es Unſinn und Gottloſigkeit, ſich einer

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[314/0336] Agathon. worauf ich einen Anſpruch machen konnte als ein Grab, wenn mich die Laſt des Elends endlich aufgerieben ha- ben wuͤrde; und ſelbſt dieſes konnte ich nur von der Froͤmmigkeit irgend eines mitleidigen Wanderers hoffen. Dieſe melancholiſchen Gedanken wurden durch die Erin- nerung meiner vergangnen Gluͤkſeligkeit, und durch das Bewußtſeyn, daß ich mein Elend durch keine Bosheit des Herzens oder irgend eine entehrende Uebelthat ver- dient haͤtte, noch empfindlicher gemacht. Jch ſah mit thraͤnenvollen Augen um mich her, als ob ich ein We- ſen in der Natur ſuchen wollte, dem mein Zuſtand zu Herzen gienge. Jn dieſem Augenblik erfuhr ich den wohlthaͤtigen Einfluß dieſer gluͤkſeligen Schwaͤrmerey, welche die Natur dem empfindlichſten Theil der Sterb- lichen, zu einem Gegenmittel gegen die Uebel, denen ſie durch die Schwaͤche ihres Herzens ausgeſezt ſind, gegeben zu haben ſcheint. Jch wandte mich an die Un- ſterblichen, mit denen meine Seele ſchon ſo lange in einer Art von unſichtbarer Gemeinſchaft geſtanden war. Der Gedanke daß ſie die Zeugen meines Lebens, mei- ner Gedanken, meiner geheimſten Neigungen geweſen ſeyen, goß lindernden Troſt in mein verwundetes Herz. Jch ſahe meine geliebte Pſyche unter ihre Fluͤgel geſi- chert. Nein, rief ich aus, die Unſchuld kan nicht un- gluͤklich ſeyn, noch das Laſter ſeine Abſichten ganz er- halten! Jn dieſem majeſtaͤtiſchen All, worinn Sphaͤ- ren und Atomen ſich mit gleicher Unterwuͤrfigkeit nach den Winken einer weiſen und wohlthaͤtigen Macht be- wegen, waͤr es Unſinn und Gottloſigkeit, ſich einer ent-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/336>, abgerufen am 24.11.2024.