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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, fünftes Capitel.
Jch bemerkte, daß mein Wirth mich mit Verwunderung
von neuem betrachtete, und so aussah, als ob, er be-
troffen wäre, einen jungen Menschen, den er in einem
so wenig versprechenden Aufzug unter einem Baum lie-
gend gefunden, mit so vieler Kentniß von Künsten spre-
chen zu hören, von denen gemeiniglich nur Leute von
Stand und Vermögen im Ton der Kenner zu reden
pflegen. Nach einer kleinen Weile wurde gemeldet,
daß das Abend-Essen aufgetragen sey. Er führte mich
hierauf in einen kleinen Saal, dessen Mauern von einem
der besten Schüler des Parrhasius mit Wasser-Farben
niedlich übermahlt waren. Wir speiseten ganz allein.
Die Tafel, das Geräthe, die Aufwärter, alles stimmte
mit dem Begriff überein, den ich mir bereits von dem
Geschmak und dem Stande des Haus-Herrn gemacht
hatte. Unter dem Essen trat ein junger Mensch von fei-
nem Ansehen und zierlich gekleidet, auf, und recitierte
ein Stuk aus der Odyssee mit vieler Geschiklichkeit.
Mein Wirth sagte mir, daß er bey Tische diese Art
von Gemüths-Ergözung den Tänzerinnen und Flöten-
spielerinnen vorzöge, womit man sonst bey den Tafeln
der Griechen sich zu unterhalten pflege. Das Lob das
ich seinem Leser beylegte, gab zu einem Gespräch über
die beste Art zu recitieren, und über die Griechischen
Dichter Anlaß, wobey ich meinem Wirthe abermal Ge-
legenheit gab, zu stuzen, und mich immer aufmerksamer,
und wie mich däuchte, mit einer Art von zärtlicher Ge-
müths-Bewegung anzusehen. Er sah daß ich es ge-
wahr wurde, und sagte mir hierauf, daß mich die

Ver-

Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel.
Jch bemerkte, daß mein Wirth mich mit Verwunderung
von neuem betrachtete, und ſo ausſah, als ob, er be-
troffen waͤre, einen jungen Menſchen, den er in einem
ſo wenig verſprechenden Aufzug unter einem Baum lie-
gend gefunden, mit ſo vieler Kentniß von Kuͤnſten ſpre-
chen zu hoͤren, von denen gemeiniglich nur Leute von
Stand und Vermoͤgen im Ton der Kenner zu reden
pflegen. Nach einer kleinen Weile wurde gemeldet,
daß das Abend-Eſſen aufgetragen ſey. Er fuͤhrte mich
hierauf in einen kleinen Saal, deſſen Mauern von einem
der beſten Schuͤler des Parrhaſius mit Waſſer-Farben
niedlich uͤbermahlt waren. Wir ſpeiſeten ganz allein.
Die Tafel, das Geraͤthe, die Aufwaͤrter, alles ſtimmte
mit dem Begriff uͤberein, den ich mir bereits von dem
Geſchmak und dem Stande des Haus-Herrn gemacht
hatte. Unter dem Eſſen trat ein junger Menſch von fei-
nem Anſehen und zierlich gekleidet, auf, und recitierte
ein Stuk aus der Odyſſee mit vieler Geſchiklichkeit.
Mein Wirth ſagte mir, daß er bey Tiſche dieſe Art
von Gemuͤths-Ergoͤzung den Taͤnzerinnen und Floͤten-
ſpielerinnen vorzoͤge, womit man ſonſt bey den Tafeln
der Griechen ſich zu unterhalten pflege. Das Lob das
ich ſeinem Leſer beylegte, gab zu einem Geſpraͤch uͤber
die beſte Art zu recitieren, und uͤber die Griechiſchen
Dichter Anlaß, wobey ich meinem Wirthe abermal Ge-
legenheit gab, zu ſtuzen, und mich immer aufmerkſamer,
und wie mich daͤuchte, mit einer Art von zaͤrtlicher Ge-
muͤths-Bewegung anzuſehen. Er ſah daß ich es ge-
wahr wurde, und ſagte mir hierauf, daß mich die

Ver-
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[317/0339] Siebentes Buch, fuͤnftes Capitel. Jch bemerkte, daß mein Wirth mich mit Verwunderung von neuem betrachtete, und ſo ausſah, als ob, er be- troffen waͤre, einen jungen Menſchen, den er in einem ſo wenig verſprechenden Aufzug unter einem Baum lie- gend gefunden, mit ſo vieler Kentniß von Kuͤnſten ſpre- chen zu hoͤren, von denen gemeiniglich nur Leute von Stand und Vermoͤgen im Ton der Kenner zu reden pflegen. Nach einer kleinen Weile wurde gemeldet, daß das Abend-Eſſen aufgetragen ſey. Er fuͤhrte mich hierauf in einen kleinen Saal, deſſen Mauern von einem der beſten Schuͤler des Parrhaſius mit Waſſer-Farben niedlich uͤbermahlt waren. Wir ſpeiſeten ganz allein. Die Tafel, das Geraͤthe, die Aufwaͤrter, alles ſtimmte mit dem Begriff uͤberein, den ich mir bereits von dem Geſchmak und dem Stande des Haus-Herrn gemacht hatte. Unter dem Eſſen trat ein junger Menſch von fei- nem Anſehen und zierlich gekleidet, auf, und recitierte ein Stuk aus der Odyſſee mit vieler Geſchiklichkeit. Mein Wirth ſagte mir, daß er bey Tiſche dieſe Art von Gemuͤths-Ergoͤzung den Taͤnzerinnen und Floͤten- ſpielerinnen vorzoͤge, womit man ſonſt bey den Tafeln der Griechen ſich zu unterhalten pflege. Das Lob das ich ſeinem Leſer beylegte, gab zu einem Geſpraͤch uͤber die beſte Art zu recitieren, und uͤber die Griechiſchen Dichter Anlaß, wobey ich meinem Wirthe abermal Ge- legenheit gab, zu ſtuzen, und mich immer aufmerkſamer, und wie mich daͤuchte, mit einer Art von zaͤrtlicher Ge- muͤths-Bewegung anzuſehen. Er ſah daß ich es ge- wahr wurde, und ſagte mir hierauf, daß mich die Ver-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/339>, abgerufen am 24.11.2024.