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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, sechstes Capitel.
geben, so fand diese mir selbst lächerliche Schmeicheley
bey dem Pöbel (dem ohnehin das Wunderbare allemal
besser als das Natürliche einleuchtet) so grossen Bey-
fall, daß sich nach und nach eine Art von Sage unter
dem Volk befestigte, welche meiner Mutter die Ehre bey-
legte, den Gott zu Delphi für ihre Reizungen empfind-
lich gemacht zu haben. So ausschweiffend dieser Wahn
war, so wahrscheinlich schien er meinen Gönnern aus
der untersten Classe; dadurch allein glaubten sie die mehr
als menschliche Vollkommenheiten, die sie mir zuschrie-
ben, erklären, und die ungereimten Hoffnungen, wel-
che sie sich von mir machten, rechtfertigen zu können.
Denn das Vorurtheil des grossen Hauffens gieng weit
genug, daß viele öffentlich sagten, Athen könne durch
mich allein zur Gebieterin des ganzen Erdbodens ge-
macht werden, und man könne nicht genug eilen, mir
eine einzelne und unumschränkte Gewalt zu übertragen,
von welcher sie sich nichts geringers als die Wiederkehr der
göldenen Zeit, die gänzliche Aufhebung des verhaßten
Unterscheids zwischen Armen und Reichen, und einen se-
ligen Müssiggang mitten unter allen Wollüsten und Er-
gözlichkeiten des Lebens versprachen. Bey diesen Ge-
sinnungen, womit in grösserm oder kleinerm Grade der
Schwärmerey das ganze Volk zu Athen für mich einge-
nommen war, brauchte es nur eine Gelegenheit, um
sie dahin zu bringen, die Geseze selbst zu Gunsten ihres
Lieblings zu überspringen. Diese zeigte sich, da Euböa
und einige andre Jnsuln sich des ziemlich harten Joches,
welches ihnen die Athenienser aufgelegt hatten, zu ent-

ledigen,
Y 2

Siebentes Buch, ſechstes Capitel.
geben, ſo fand dieſe mir ſelbſt laͤcherliche Schmeicheley
bey dem Poͤbel (dem ohnehin das Wunderbare allemal
beſſer als das Natuͤrliche einleuchtet) ſo groſſen Bey-
fall, daß ſich nach und nach eine Art von Sage unter
dem Volk befeſtigte, welche meiner Mutter die Ehre bey-
legte, den Gott zu Delphi fuͤr ihre Reizungen empfind-
lich gemacht zu haben. So ausſchweiffend dieſer Wahn
war, ſo wahrſcheinlich ſchien er meinen Goͤnnern aus
der unterſten Claſſe; dadurch allein glaubten ſie die mehr
als menſchliche Vollkommenheiten, die ſie mir zuſchrie-
ben, erklaͤren, und die ungereimten Hoffnungen, wel-
che ſie ſich von mir machten, rechtfertigen zu koͤnnen.
Denn das Vorurtheil des groſſen Hauffens gieng weit
genug, daß viele oͤffentlich ſagten, Athen koͤnne durch
mich allein zur Gebieterin des ganzen Erdbodens ge-
macht werden, und man koͤnne nicht genug eilen, mir
eine einzelne und unumſchraͤnkte Gewalt zu uͤbertragen,
von welcher ſie ſich nichts geringers als die Wiederkehr der
goͤldenen Zeit, die gaͤnzliche Aufhebung des verhaßten
Unterſcheids zwiſchen Armen und Reichen, und einen ſe-
ligen Muͤſſiggang mitten unter allen Wolluͤſten und Er-
goͤzlichkeiten des Lebens verſprachen. Bey dieſen Ge-
ſinnungen, womit in groͤſſerm oder kleinerm Grade der
Schwaͤrmerey das ganze Volk zu Athen fuͤr mich einge-
nommen war, brauchte es nur eine Gelegenheit, um
ſie dahin zu bringen, die Geſeze ſelbſt zu Gunſten ihres
Lieblings zu uͤberſpringen. Dieſe zeigte ſich, da Euboͤa
und einige andre Jnſuln ſich des ziemlich harten Joches,
welches ihnen die Athenienſer aufgelegt hatten, zu ent-

ledigen,
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[339/0361] Siebentes Buch, ſechstes Capitel. geben, ſo fand dieſe mir ſelbſt laͤcherliche Schmeicheley bey dem Poͤbel (dem ohnehin das Wunderbare allemal beſſer als das Natuͤrliche einleuchtet) ſo groſſen Bey- fall, daß ſich nach und nach eine Art von Sage unter dem Volk befeſtigte, welche meiner Mutter die Ehre bey- legte, den Gott zu Delphi fuͤr ihre Reizungen empfind- lich gemacht zu haben. So ausſchweiffend dieſer Wahn war, ſo wahrſcheinlich ſchien er meinen Goͤnnern aus der unterſten Claſſe; dadurch allein glaubten ſie die mehr als menſchliche Vollkommenheiten, die ſie mir zuſchrie- ben, erklaͤren, und die ungereimten Hoffnungen, wel- che ſie ſich von mir machten, rechtfertigen zu koͤnnen. Denn das Vorurtheil des groſſen Hauffens gieng weit genug, daß viele oͤffentlich ſagten, Athen koͤnne durch mich allein zur Gebieterin des ganzen Erdbodens ge- macht werden, und man koͤnne nicht genug eilen, mir eine einzelne und unumſchraͤnkte Gewalt zu uͤbertragen, von welcher ſie ſich nichts geringers als die Wiederkehr der goͤldenen Zeit, die gaͤnzliche Aufhebung des verhaßten Unterſcheids zwiſchen Armen und Reichen, und einen ſe- ligen Muͤſſiggang mitten unter allen Wolluͤſten und Er- goͤzlichkeiten des Lebens verſprachen. Bey dieſen Ge- ſinnungen, womit in groͤſſerm oder kleinerm Grade der Schwaͤrmerey das ganze Volk zu Athen fuͤr mich einge- nommen war, brauchte es nur eine Gelegenheit, um ſie dahin zu bringen, die Geſeze ſelbſt zu Gunſten ihres Lieblings zu uͤberſpringen. Dieſe zeigte ſich, da Euboͤa und einige andre Jnſuln ſich des ziemlich harten Joches, welches ihnen die Athenienſer aufgelegt hatten, zu ent- ledigen, Y 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/361>, abgerufen am 22.11.2024.