Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Erstes Buch, sechstes Capitel. mich nicht mehr neben ihr sehen würdest? Wie wenigkannte sie unsre Liebe! Nein, wahre Liebe kann so we- nig eifersüchtig seyn, als sich selbst fühlende Stärke zit- tern kann. -- Jch verließ Delphi mit zerrißnem Her- zen. Als ich den lezten Blik auf diese bezauberten Hay- ne heftete, wo deine Liebe mir ein neues Wesen gab, eine neue Würklichkeit, gegen die mein voriges Leben eine ekelhafte Abwechslung von einförmigen Tagen und Nächten, ein ungefühltes Pflanzen-Leben war, als ich diese geliebte Gegend endlich ganz aus den Augen ver- lohre. -- Nein, Agathon, ich kan es nicht beschrei- ben, du kanst es empfinden, du allein -- Als ich mich selbst wieder fühlte, erleichtert ein Strom von Thrä- nen mein gepreßtes Herz. Es war eine Art von Wol- lust in diesen Thränen, ich ließ ihnen freyen Lauf, oh- ne mich zu bekümmern, daß sie gesehen würden. Die Welt schien mir ein leerer Raum, und alle Gegenstände um mich her Träume und Schatten; du und ich wa- ren allein; ich sah, ich hörte nur dich, ich lag an dei- ner Brust, ich legte meinen Arm um deinen Hals, ich zeigte dir meine Seele in meinen Augen; ich führte dich in die heiligen Schatten, wo du mich die Gegenwart der Unsterblichen fühlen lehrtest; ich lag zu deinen Füs- sen, und meine an deinen Lippen hangende Seele glaub- te den Gesang der Musen zu hören, wenn du sprachest; wir wandelten Hand in Hand beym sanften Mondschein durch elysische Gegenden, oder sezten uns unter die Blumen, stillschweigend, indem unsre Seelen, in ih- rer [Agath. I. Th.] B
Erſtes Buch, ſechſtes Capitel. mich nicht mehr neben ihr ſehen wuͤrdeſt? Wie wenigkannte ſie unſre Liebe! Nein, wahre Liebe kann ſo we- nig eiferſuͤchtig ſeyn, als ſich ſelbſt fuͤhlende Staͤrke zit- tern kann. ‒‒ Jch verließ Delphi mit zerrißnem Her- zen. Als ich den lezten Blik auf dieſe bezauberten Hay- ne heftete, wo deine Liebe mir ein neues Weſen gab, eine neue Wuͤrklichkeit, gegen die mein voriges Leben eine ekelhafte Abwechslung von einfoͤrmigen Tagen und Naͤchten, ein ungefuͤhltes Pflanzen-Leben war, als ich dieſe geliebte Gegend endlich ganz aus den Augen ver- lohre. ‒‒ Nein, Agathon, ich kan es nicht beſchrei- ben, du kanſt es empfinden, du allein ‒‒ Als ich mich ſelbſt wieder fuͤhlte, erleichtert ein Strom von Thraͤ- nen mein gepreßtes Herz. Es war eine Art von Wol- luſt in dieſen Thraͤnen, ich ließ ihnen freyen Lauf, oh- ne mich zu bekuͤmmern, daß ſie geſehen wuͤrden. Die Welt ſchien mir ein leerer Raum, und alle Gegenſtaͤnde um mich her Traͤume und Schatten; du und ich wa- ren allein; ich ſah, ich hoͤrte nur dich, ich lag an dei- ner Bruſt, ich legte meinen Arm um deinen Hals, ich zeigte dir meine Seele in meinen Augen; ich fuͤhrte dich in die heiligen Schatten, wo du mich die Gegenwart der Unſterblichen fuͤhlen lehrteſt; ich lag zu deinen Fuͤſ- ſen, und meine an deinen Lippen hangende Seele glaub- te den Geſang der Muſen zu hoͤren, wenn du ſpracheſt; wir wandelten Hand in Hand beym ſanften Mondſchein durch elyſiſche Gegenden, oder ſezten uns unter die Blumen, ſtillſchweigend, indem unſre Seelen, in ih- rer [Agath. I. Th.] B
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Erſtes Buch, ſechſtes Capitel.
mich nicht mehr neben ihr ſehen wuͤrdeſt? Wie wenig
kannte ſie unſre Liebe! Nein, wahre Liebe kann ſo we-
nig eiferſuͤchtig ſeyn, als ſich ſelbſt fuͤhlende Staͤrke zit-
tern kann. ‒‒ Jch verließ Delphi mit zerrißnem Her-
zen. Als ich den lezten Blik auf dieſe bezauberten Hay-
ne heftete, wo deine Liebe mir ein neues Weſen gab,
eine neue Wuͤrklichkeit, gegen die mein voriges Leben
eine ekelhafte Abwechslung von einfoͤrmigen Tagen und
Naͤchten, ein ungefuͤhltes Pflanzen-Leben war, als ich
dieſe geliebte Gegend endlich ganz aus den Augen ver-
lohre. ‒‒ Nein, Agathon, ich kan es nicht beſchrei-
ben, du kanſt es empfinden, du allein ‒‒ Als ich mich
ſelbſt wieder fuͤhlte, erleichtert ein Strom von Thraͤ-
nen mein gepreßtes Herz. Es war eine Art von Wol-
luſt in dieſen Thraͤnen, ich ließ ihnen freyen Lauf, oh-
ne mich zu bekuͤmmern, daß ſie geſehen wuͤrden. Die
Welt ſchien mir ein leerer Raum, und alle Gegenſtaͤnde
um mich her Traͤume und Schatten; du und ich wa-
ren allein; ich ſah, ich hoͤrte nur dich, ich lag an dei-
ner Bruſt, ich legte meinen Arm um deinen Hals, ich
zeigte dir meine Seele in meinen Augen; ich fuͤhrte dich
in die heiligen Schatten, wo du mich die Gegenwart
der Unſterblichen fuͤhlen lehrteſt; ich lag zu deinen Fuͤſ-
ſen, und meine an deinen Lippen hangende Seele glaub-
te den Geſang der Muſen zu hoͤren, wenn du ſpracheſt;
wir wandelten Hand in Hand beym ſanften Mondſchein
durch elyſiſche Gegenden, oder ſezten uns unter die
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