Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
durch einen Freund zu Crotona eine Abschrift erhal-
ten. Dieser Umstand macht begreiflich, wie der Ge-
schichtschreiber habe wissen können, was Agathon bey
dieser und andern Gelegenheiten mit sich selbst gespro-
chen; und schüzet uns gegen die Einwürfe, die man
gegen die Selbstgespräche machen kann, worinn die
Geschichtschreiber den Poeten so gerne nachzuahmen
pflegen, ohne sich, wie sie, auf die Eingebung der Mu-
sen berufen zu können.

Unsre Urkunde meldet also, nachdem die erste Wuth
des Schmerze[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]s, welche allezeit stumm und Gedanken-
los zu seyn pflegt, sich geleget, habe Agathon sich um-
gesehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und
Wasser um sich her erblikt, habe er, seiner Gewohn-
heit nach, also mit sich selbst zu philosophiren an-
gefangen:

War es ein Traum, was mir begegnet ist, oder
sah ich sie würklich, hört' ich würklich den rührenden
Accent ihrer süssen Stimme, und umfiengen meine Ar-
me keinen Schatten? Wenn es mehr als ein Traum
war, warum ist mir von einem Gegenstand, der alle
andern aus meiner Seele auslöschte nichts als die
Erinnerung übrig? -- Wenn Ordnung und Zusam-
menhang die Kennzeichen der Wahrheit sind, o! wie
ähnlich dem ungefehren Spiel der träumenden Phanta-
sie sind die Zufälle meines ganzen Lebens! -- Von Kind-
heit an unter den heiligen Lorbeern des Delphischen

Gottes

Agathon.
durch einen Freund zu Crotona eine Abſchrift erhal-
ten. Dieſer Umſtand macht begreiflich, wie der Ge-
ſchichtſchreiber habe wiſſen koͤnnen, was Agathon bey
dieſer und andern Gelegenheiten mit ſich ſelbſt geſpro-
chen; und ſchuͤzet uns gegen die Einwuͤrfe, die man
gegen die Selbſtgeſpraͤche machen kann, worinn die
Geſchichtſchreiber den Poeten ſo gerne nachzuahmen
pflegen, ohne ſich, wie ſie, auf die Eingebung der Mu-
ſen berufen zu koͤnnen.

Unſre Urkunde meldet alſo, nachdem die erſte Wuth
des Schmerze[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]s, welche allezeit ſtumm und Gedanken-
los zu ſeyn pflegt, ſich geleget, habe Agathon ſich um-
geſehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und
Waſſer um ſich her erblikt, habe er, ſeiner Gewohn-
heit nach, alſo mit ſich ſelbſt zu philoſophiren an-
gefangen:

War es ein Traum, was mir begegnet iſt, oder
ſah ich ſie wuͤrklich, hoͤrt’ ich wuͤrklich den ruͤhrenden
Accent ihrer ſuͤſſen Stimme, und umfiengen meine Ar-
me keinen Schatten? Wenn es mehr als ein Traum
war, warum iſt mir von einem Gegenſtand, der alle
andern aus meiner Seele ausloͤſchte nichts als die
Erinnerung uͤbrig? ‒‒ Wenn Ordnung und Zuſam-
menhang die Kennzeichen der Wahrheit ſind, o! wie
aͤhnlich dem ungefehren Spiel der traͤumenden Phanta-
ſie ſind die Zufaͤlle meines ganzen Lebens! ‒‒ Von Kind-
heit an unter den heiligen Lorbeern des Delphiſchen

Gottes
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0050" n="28"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
durch einen Freund zu Crotona eine Ab&#x017F;chrift erhal-<lb/>
ten. Die&#x017F;er Um&#x017F;tand macht begreiflich, wie der Ge-<lb/>
&#x017F;chicht&#x017F;chreiber habe wi&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nnen, was Agathon bey<lb/>
die&#x017F;er und andern Gelegenheiten mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;pro-<lb/>
chen; und &#x017F;chu&#x0364;zet uns gegen die Einwu&#x0364;rfe, die man<lb/>
gegen die Selb&#x017F;tge&#x017F;pra&#x0364;che machen kann, worinn die<lb/>
Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber den Poeten &#x017F;o gerne nachzuahmen<lb/>
pflegen, ohne &#x017F;ich, wie &#x017F;ie, auf die Eingebung der Mu-<lb/>
&#x017F;en berufen zu ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
            <p>Un&#x017F;re Urkunde meldet al&#x017F;o, nachdem die er&#x017F;te Wuth<lb/>
des Schmerze<gap reason="illegible" unit="chars" quantity="1"/>s, welche allezeit &#x017F;tumm und Gedanken-<lb/>
los zu &#x017F;eyn pflegt, &#x017F;ich geleget, habe Agathon &#x017F;ich um-<lb/>
ge&#x017F;ehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er um &#x017F;ich her erblikt, habe er, &#x017F;einer Gewohn-<lb/>
heit nach, al&#x017F;o mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu philo&#x017F;ophiren an-<lb/>
gefangen:</p><lb/>
            <p>War es ein Traum, was mir begegnet i&#x017F;t, oder<lb/>
&#x017F;ah ich &#x017F;ie wu&#x0364;rklich, ho&#x0364;rt&#x2019; ich wu&#x0364;rklich den ru&#x0364;hrenden<lb/>
Accent ihrer &#x017F;u&#x0364;&#x017F;&#x017F;en Stimme, und umfiengen meine Ar-<lb/>
me keinen Schatten? Wenn es mehr als ein Traum<lb/>
war, warum i&#x017F;t mir von einem Gegen&#x017F;tand, der alle<lb/>
andern aus meiner Seele auslo&#x0364;&#x017F;chte nichts als die<lb/>
Erinnerung u&#x0364;brig? &#x2012;&#x2012; Wenn Ordnung und Zu&#x017F;am-<lb/>
menhang die Kennzeichen der Wahrheit &#x017F;ind, o! wie<lb/>
a&#x0364;hnlich dem ungefehren Spiel der tra&#x0364;umenden Phanta-<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ind die Zufa&#x0364;lle meines ganzen Lebens! &#x2012;&#x2012; Von Kind-<lb/>
heit an unter den heiligen Lorbeern des Delphi&#x017F;chen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Gottes</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0050] Agathon. durch einen Freund zu Crotona eine Abſchrift erhal- ten. Dieſer Umſtand macht begreiflich, wie der Ge- ſchichtſchreiber habe wiſſen koͤnnen, was Agathon bey dieſer und andern Gelegenheiten mit ſich ſelbſt geſpro- chen; und ſchuͤzet uns gegen die Einwuͤrfe, die man gegen die Selbſtgeſpraͤche machen kann, worinn die Geſchichtſchreiber den Poeten ſo gerne nachzuahmen pflegen, ohne ſich, wie ſie, auf die Eingebung der Mu- ſen berufen zu koͤnnen. Unſre Urkunde meldet alſo, nachdem die erſte Wuth des Schmerze_s, welche allezeit ſtumm und Gedanken- los zu ſeyn pflegt, ſich geleget, habe Agathon ſich um- geſehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und Waſſer um ſich her erblikt, habe er, ſeiner Gewohn- heit nach, alſo mit ſich ſelbſt zu philoſophiren an- gefangen: War es ein Traum, was mir begegnet iſt, oder ſah ich ſie wuͤrklich, hoͤrt’ ich wuͤrklich den ruͤhrenden Accent ihrer ſuͤſſen Stimme, und umfiengen meine Ar- me keinen Schatten? Wenn es mehr als ein Traum war, warum iſt mir von einem Gegenſtand, der alle andern aus meiner Seele ausloͤſchte nichts als die Erinnerung uͤbrig? ‒‒ Wenn Ordnung und Zuſam- menhang die Kennzeichen der Wahrheit ſind, o! wie aͤhnlich dem ungefehren Spiel der traͤumenden Phanta- ſie ſind die Zufaͤlle meines ganzen Lebens! ‒‒ Von Kind- heit an unter den heiligen Lorbeern des Delphiſchen Gottes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/50
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/50>, abgerufen am 23.11.2024.