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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Erstes Buch, zehntes Capitel.
Gottes erzogen, schmeichle ich mir unter seinem Schuz,
in Beschauung der Wahrheit und im geheimen Umgang
mit den Unsterblichen, ein stilles und sorgenfreyes Leben
zuzubringen. Tage voll Unschuld, einer dem andern
gleich, fliessen in ruhiger Stille, wie Augenblike vor-
bey, und ich werde unvermerkt ein Jüngling. Eine
Priesterin, deren Seele eine Wohnung der Götter seyn
soll, wie ihre Zunge das Werkzeug ihrer Aussprüche,
vergißt ihre Gelübde, und bemüht sich meine unerfahr-
ne Jugend zu Befriedigung ihrer Begierde zu mißbrau-
chen. Jhre Leidenschaft beraubt mich derjenigen, die
ich liebe; ihre Nachstellungen treiben mich endlich aus
dem geheiligten Schuzort, wo ich, seit dem ich mich
selbst empfand, von Bildern der Götter und Helden um-
geben, mich einzig beschäftigt hatte, ihnen ähnlich zu
werden. Jn eine unbekannte Welt ausgestossen, finde ich
unvermuthet einen Vater und ein Vaterland, die ich
nicht kannte. Ein schneller Wechsel von Umständen
sezt mich eben so unvermuthet in den Bestz des grösten
Ansehens in Athen. Das blinde Zutrauen eines Vol-
kes, das in seiner Gunst so wenig Maaß hält als in
seinem Unwillen, nöthigt mir die Anführung seines
Kriegsheers auf; ein wunderbares Glük kömmt allen
meinen Unternehmungen entgegen, und führt meine An-
schläge aus; ich kehre siegreich zurük. Welch ein
Triumph! Welch ein Zujauchzen! Welche Vergötte-
rung! Und wofür? Für Thaten, an denen ich den
wenigsten Antheil hatte. Aber kaum schimmert mei-
ne Bildsäule zwischen den Bildern des Cecrops und

Theseus,

Erſtes Buch, zehntes Capitel.
Gottes erzogen, ſchmeichle ich mir unter ſeinem Schuz,
in Beſchauung der Wahrheit und im geheimen Umgang
mit den Unſterblichen, ein ſtilles und ſorgenfreyes Leben
zuzubringen. Tage voll Unſchuld, einer dem andern
gleich, flieſſen in ruhiger Stille, wie Augenblike vor-
bey, und ich werde unvermerkt ein Juͤngling. Eine
Prieſterin, deren Seele eine Wohnung der Goͤtter ſeyn
ſoll, wie ihre Zunge das Werkzeug ihrer Ausſpruͤche,
vergißt ihre Geluͤbde, und bemuͤht ſich meine unerfahr-
ne Jugend zu Befriedigung ihrer Begierde zu mißbrau-
chen. Jhre Leidenſchaft beraubt mich derjenigen, die
ich liebe; ihre Nachſtellungen treiben mich endlich aus
dem geheiligten Schuzort, wo ich, ſeit dem ich mich
ſelbſt empfand, von Bildern der Goͤtter und Helden um-
geben, mich einzig beſchaͤftigt hatte, ihnen aͤhnlich zu
werden. Jn eine unbekannte Welt ausgeſtoſſen, finde ich
unvermuthet einen Vater und ein Vaterland, die ich
nicht kannte. Ein ſchneller Wechſel von Umſtaͤnden
ſezt mich eben ſo unvermuthet in den Beſtz des groͤſten
Anſehens in Athen. Das blinde Zutrauen eines Vol-
kes, das in ſeiner Gunſt ſo wenig Maaß haͤlt als in
ſeinem Unwillen, noͤthigt mir die Anfuͤhrung ſeines
Kriegsheers auf; ein wunderbares Gluͤk koͤmmt allen
meinen Unternehmungen entgegen, und fuͤhrt meine An-
ſchlaͤge aus; ich kehre ſiegreich zuruͤk. Welch ein
Triumph! Welch ein Zujauchzen! Welche Vergoͤtte-
rung! Und wofuͤr? Fuͤr Thaten, an denen ich den
wenigſten Antheil hatte. Aber kaum ſchimmert mei-
ne Bildſaͤule zwiſchen den Bildern des Cecrops und

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[29/0051] Erſtes Buch, zehntes Capitel. Gottes erzogen, ſchmeichle ich mir unter ſeinem Schuz, in Beſchauung der Wahrheit und im geheimen Umgang mit den Unſterblichen, ein ſtilles und ſorgenfreyes Leben zuzubringen. Tage voll Unſchuld, einer dem andern gleich, flieſſen in ruhiger Stille, wie Augenblike vor- bey, und ich werde unvermerkt ein Juͤngling. Eine Prieſterin, deren Seele eine Wohnung der Goͤtter ſeyn ſoll, wie ihre Zunge das Werkzeug ihrer Ausſpruͤche, vergißt ihre Geluͤbde, und bemuͤht ſich meine unerfahr- ne Jugend zu Befriedigung ihrer Begierde zu mißbrau- chen. Jhre Leidenſchaft beraubt mich derjenigen, die ich liebe; ihre Nachſtellungen treiben mich endlich aus dem geheiligten Schuzort, wo ich, ſeit dem ich mich ſelbſt empfand, von Bildern der Goͤtter und Helden um- geben, mich einzig beſchaͤftigt hatte, ihnen aͤhnlich zu werden. Jn eine unbekannte Welt ausgeſtoſſen, finde ich unvermuthet einen Vater und ein Vaterland, die ich nicht kannte. Ein ſchneller Wechſel von Umſtaͤnden ſezt mich eben ſo unvermuthet in den Beſtz des groͤſten Anſehens in Athen. Das blinde Zutrauen eines Vol- kes, das in ſeiner Gunſt ſo wenig Maaß haͤlt als in ſeinem Unwillen, noͤthigt mir die Anfuͤhrung ſeines Kriegsheers auf; ein wunderbares Gluͤk koͤmmt allen meinen Unternehmungen entgegen, und fuͤhrt meine An- ſchlaͤge aus; ich kehre ſiegreich zuruͤk. Welch ein Triumph! Welch ein Zujauchzen! Welche Vergoͤtte- rung! Und wofuͤr? Fuͤr Thaten, an denen ich den wenigſten Antheil hatte. Aber kaum ſchimmert mei- ne Bildſaͤule zwiſchen den Bildern des Cecrops und Theſeus,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/51>, abgerufen am 21.11.2024.