Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon. Theseus, so reißt mich eben dieser Pöbel, der vor we-nigen Tagen bereit war, mir Altäre aufzurichten, mit ungestümer Wuth zum Gerichtsplaz hin. Die Mißgunst derer, die das Uebermaaß meines Glüks beleidigte, hat schon alle Gemüther wider mich eingenommen, und alle Ohren gegen meine Vertheidigung verstopft; Hand- lungen, worüber mein Herz mir Beyfall giebt, werden auf den Lippen meiner Ankläger zu Verbrechen, mein Verdammungs-Urtheil wird ausgesprochen. Von allen verlassen, die sich meine Freunde genannt hatten, und kurz zuvor die eifrigsten gewesen waren, neue Ehren- bezeugungen für mich zu erfinden, fliehe ich aus Athen, mit leichterm Herzen, als womit ich vor wenigen Wo- chen, unter dem Zujauchzen einer unzählbaren Menge, durch ihre Thore eingeführt wurde; und entschliesse mich den Erdboden zu durchwandern, ob ich einen Ort finden möchte, wo die Tugend, von auswärtigen Be- leidigungen sicher, ihrer eigenthümlichen Glükseligkeit geniessen könnte, ohne sich aus der Gesellschaft der Men- schen zu verbannen. Jch nahm den Weg nach Asien, um an den Ufern des Oxus die Quellen zu besuchen, aus denen die Geheimnisse des Orphischen Gottesdiensts zu uns geflossen sind. Ein Zufall führt mich unter ei- nen Schwarm rasender Bachantinnen, und ich entrin- ne ihrer verliebten Wuth blos dadurch, daß ich in die Hände seeräuberischer Barbaren falle. Jn diesem Au- genblike, da mir von allem was man verliehren kann nur noch das Leben übrig ist, finde ich meine Psyche wieder; aber kaum fange ich an meinen Sinnen zu glauben,
Agathon. Theſeus, ſo reißt mich eben dieſer Poͤbel, der vor we-nigen Tagen bereit war, mir Altaͤre aufzurichten, mit ungeſtuͤmer Wuth zum Gerichtsplaz hin. Die Mißgunſt derer, die das Uebermaaß meines Gluͤks beleidigte, hat ſchon alle Gemuͤther wider mich eingenommen, und alle Ohren gegen meine Vertheidigung verſtopft; Hand- lungen, woruͤber mein Herz mir Beyfall giebt, werden auf den Lippen meiner Anklaͤger zu Verbrechen, mein Verdammungs-Urtheil wird ausgeſprochen. Von allen verlaſſen, die ſich meine Freunde genannt hatten, und kurz zuvor die eifrigſten geweſen waren, neue Ehren- bezeugungen fuͤr mich zu erfinden, fliehe ich aus Athen, mit leichterm Herzen, als womit ich vor wenigen Wo- chen, unter dem Zujauchzen einer unzaͤhlbaren Menge, durch ihre Thore eingefuͤhrt wurde; und entſchlieſſe mich den Erdboden zu durchwandern, ob ich einen Ort finden moͤchte, wo die Tugend, von auswaͤrtigen Be- leidigungen ſicher, ihrer eigenthuͤmlichen Gluͤkſeligkeit genieſſen koͤnnte, ohne ſich aus der Geſellſchaft der Men- ſchen zu verbannen. Jch nahm den Weg nach Aſien, um an den Ufern des Oxus die Quellen zu beſuchen, aus denen die Geheimniſſe des Orphiſchen Gottesdienſts zu uns gefloſſen ſind. Ein Zufall fuͤhrt mich unter ei- nen Schwarm raſender Bachantinnen, und ich entrin- ne ihrer verliebten Wuth blos dadurch, daß ich in die Haͤnde ſeeraͤuberiſcher Barbaren falle. Jn dieſem Au- genblike, da mir von allem was man verliehren kann nur noch das Leben uͤbrig iſt, finde ich meine Pſyche wieder; aber kaum fange ich an meinen Sinnen zu glauben,
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0052" n="30"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/> Theſeus, ſo reißt mich eben dieſer Poͤbel, der vor we-<lb/> nigen Tagen bereit war, mir Altaͤre aufzurichten, mit<lb/> ungeſtuͤmer Wuth zum Gerichtsplaz hin. Die Mißgunſt<lb/> derer, die das Uebermaaß meines Gluͤks beleidigte, hat<lb/> ſchon alle Gemuͤther wider mich eingenommen, und<lb/> alle Ohren gegen meine Vertheidigung verſtopft; Hand-<lb/> lungen, woruͤber mein Herz mir Beyfall giebt, werden<lb/> auf den Lippen meiner Anklaͤger zu Verbrechen, mein<lb/> Verdammungs-Urtheil wird ausgeſprochen. Von allen<lb/> verlaſſen, die ſich meine Freunde genannt hatten, und<lb/> kurz zuvor die eifrigſten geweſen waren, neue Ehren-<lb/> bezeugungen fuͤr mich zu erfinden, fliehe ich aus Athen,<lb/> mit leichterm Herzen, als womit ich vor wenigen Wo-<lb/> chen, unter dem Zujauchzen einer unzaͤhlbaren Menge,<lb/> durch ihre Thore eingefuͤhrt wurde; und entſchlieſſe<lb/> mich den Erdboden zu durchwandern, ob ich einen Ort<lb/> finden moͤchte, wo die Tugend, von auswaͤrtigen Be-<lb/> leidigungen ſicher, ihrer eigenthuͤmlichen Gluͤkſeligkeit<lb/> genieſſen koͤnnte, ohne ſich aus der Geſellſchaft der Men-<lb/> ſchen zu verbannen. Jch nahm den Weg nach Aſien,<lb/> um an den Ufern des Oxus die Quellen zu beſuchen,<lb/> aus denen die Geheimniſſe des Orphiſchen Gottesdienſts<lb/> zu uns gefloſſen ſind. Ein Zufall fuͤhrt mich unter ei-<lb/> nen Schwarm raſender Bachantinnen, und ich entrin-<lb/> ne ihrer verliebten Wuth blos dadurch, daß ich in die<lb/> Haͤnde ſeeraͤuberiſcher Barbaren falle. Jn dieſem Au-<lb/> genblike, da mir von allem was man verliehren kann<lb/> nur noch das Leben uͤbrig iſt, finde ich meine Pſyche<lb/> wieder; aber kaum fange ich an meinen Sinnen zu<lb/> <fw place="bottom" type="catch">glauben,</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0052]
Agathon.
Theſeus, ſo reißt mich eben dieſer Poͤbel, der vor we-
nigen Tagen bereit war, mir Altaͤre aufzurichten, mit
ungeſtuͤmer Wuth zum Gerichtsplaz hin. Die Mißgunſt
derer, die das Uebermaaß meines Gluͤks beleidigte, hat
ſchon alle Gemuͤther wider mich eingenommen, und
alle Ohren gegen meine Vertheidigung verſtopft; Hand-
lungen, woruͤber mein Herz mir Beyfall giebt, werden
auf den Lippen meiner Anklaͤger zu Verbrechen, mein
Verdammungs-Urtheil wird ausgeſprochen. Von allen
verlaſſen, die ſich meine Freunde genannt hatten, und
kurz zuvor die eifrigſten geweſen waren, neue Ehren-
bezeugungen fuͤr mich zu erfinden, fliehe ich aus Athen,
mit leichterm Herzen, als womit ich vor wenigen Wo-
chen, unter dem Zujauchzen einer unzaͤhlbaren Menge,
durch ihre Thore eingefuͤhrt wurde; und entſchlieſſe
mich den Erdboden zu durchwandern, ob ich einen Ort
finden moͤchte, wo die Tugend, von auswaͤrtigen Be-
leidigungen ſicher, ihrer eigenthuͤmlichen Gluͤkſeligkeit
genieſſen koͤnnte, ohne ſich aus der Geſellſchaft der Men-
ſchen zu verbannen. Jch nahm den Weg nach Aſien,
um an den Ufern des Oxus die Quellen zu beſuchen,
aus denen die Geheimniſſe des Orphiſchen Gottesdienſts
zu uns gefloſſen ſind. Ein Zufall fuͤhrt mich unter ei-
nen Schwarm raſender Bachantinnen, und ich entrin-
ne ihrer verliebten Wuth blos dadurch, daß ich in die
Haͤnde ſeeraͤuberiſcher Barbaren falle. Jn dieſem Au-
genblike, da mir von allem was man verliehren kann
nur noch das Leben uͤbrig iſt, finde ich meine Pſyche
wieder; aber kaum fange ich an meinen Sinnen zu
glauben,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |