Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Erstes Buch, eilftes Capitel. gen seyn könnten, als was sie würklich waren, zu sehen.Eine Menge von traurigen Vorstellungen stieg in ge- drängter Verwirrung bey diesem Anblik in ihm auf; und in eben dem Augenblik, da sein Herz von Mitleiden und Wehmuth zerfloß, brannte es von einem zürnen- den Abscheu vor den Menschen, dessen nur diejenigen fühig, welche die Menschheit lieben. Er vergaß über diesen Empfindungen seines eignen Unglüks, als ein Mann von edelm Ansehen, welcher schon bey Jahren zu seyn schien, im Vorübergehn seiner gewahr ward, stehen blieb, und ihn mit besondrer Aufmerksamkeit be- trachtete. Wem gehört dieser junge Leibeigene? fragte endlich der Mann einen von den Ciliciern, der neben ihm stand. Dem, der ihn von mir kaufen wird, ver- sezte dieser. Was versteht er für eine Kunst? fuhr je- ner fort. Das wird er dir selbst am besten sagen kön- nen, erwiederte der Cilicier. Der Mann wandte sich also an den Agathon selbst, und fragte ihn, ob er nicht ein Grieche sey? ob er sich nicht in Athen aufgehalten? und ob er in den Künsten der Musen unterrichtet wor- den? Agathon bejahete diese Fragen: "Kannst du den Homer lesen?" Jch kann lesen; und ich meyne, daß ich den Homer empfinden könne. "Kennst du die Schrif- ten der Philosophen?" Nein, denn ich verstehe sie nicht." Du gefällst mir, junger Mensch! Wie hoch haltet ihr ihn, mein Freund? Er sollte, wie die an- dern, durch den Herold ausgerufen werden, antwortete der Cilicier, aber für zwey Talente ist er euer. Begleite mich C 3
Erſtes Buch, eilftes Capitel. gen ſeyn koͤnnten, als was ſie wuͤrklich waren, zu ſehen.Eine Menge von traurigen Vorſtellungen ſtieg in ge- draͤngter Verwirrung bey dieſem Anblik in ihm auf; und in eben dem Augenblik, da ſein Herz von Mitleiden und Wehmuth zerfloß, brannte es von einem zuͤrnen- den Abſcheu vor den Menſchen, deſſen nur diejenigen fuͤhig, welche die Menſchheit lieben. Er vergaß uͤber dieſen Empfindungen ſeines eignen Ungluͤks, als ein Mann von edelm Anſehen, welcher ſchon bey Jahren zu ſeyn ſchien, im Voruͤbergehn ſeiner gewahr ward, ſtehen blieb, und ihn mit beſondrer Aufmerkſamkeit be- trachtete. Wem gehoͤrt dieſer junge Leibeigene? fragte endlich der Mann einen von den Ciliciern, der neben ihm ſtand. Dem, der ihn von mir kaufen wird, ver- ſezte dieſer. Was verſteht er fuͤr eine Kunſt? fuhr je- ner fort. Das wird er dir ſelbſt am beſten ſagen koͤn- nen, erwiederte der Cilicier. Der Mann wandte ſich alſo an den Agathon ſelbſt, und fragte ihn, ob er nicht ein Grieche ſey? ob er ſich nicht in Athen aufgehalten? und ob er in den Kuͤnſten der Muſen unterrichtet wor- den? Agathon bejahete dieſe Fragen: „Kannſt du den Homer leſen?„ Jch kann leſen; und ich meyne, daß ich den Homer empfinden koͤnne. „Kennſt du die Schrif- ten der Philoſophen?„ Nein, denn ich verſtehe ſie nicht.„ Du gefaͤllſt mir, junger Menſch! Wie hoch haltet ihr ihn, mein Freund? Er ſollte, wie die an- dern, durch den Herold ausgerufen werden, antwortete der Cilicier, aber fuͤr zwey Talente iſt er euer. Begleite mich C 3
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Erſtes Buch, eilftes Capitel.
gen ſeyn koͤnnten, als was ſie wuͤrklich waren, zu ſehen.
Eine Menge von traurigen Vorſtellungen ſtieg in ge-
draͤngter Verwirrung bey dieſem Anblik in ihm auf;
und in eben dem Augenblik, da ſein Herz von Mitleiden
und Wehmuth zerfloß, brannte es von einem zuͤrnen-
den Abſcheu vor den Menſchen, deſſen nur diejenigen
fuͤhig, welche die Menſchheit lieben. Er vergaß uͤber
dieſen Empfindungen ſeines eignen Ungluͤks, als ein
Mann von edelm Anſehen, welcher ſchon bey Jahren
zu ſeyn ſchien, im Voruͤbergehn ſeiner gewahr ward,
ſtehen blieb, und ihn mit beſondrer Aufmerkſamkeit be-
trachtete. Wem gehoͤrt dieſer junge Leibeigene? fragte
endlich der Mann einen von den Ciliciern, der neben
ihm ſtand. Dem, der ihn von mir kaufen wird, ver-
ſezte dieſer. Was verſteht er fuͤr eine Kunſt? fuhr je-
ner fort. Das wird er dir ſelbſt am beſten ſagen koͤn-
nen, erwiederte der Cilicier. Der Mann wandte ſich alſo
an den Agathon ſelbſt, und fragte ihn, ob er nicht ein
Grieche ſey? ob er ſich nicht in Athen aufgehalten?
und ob er in den Kuͤnſten der Muſen unterrichtet wor-
den? Agathon bejahete dieſe Fragen: „Kannſt du den
Homer leſen?„ Jch kann leſen; und ich meyne, daß
ich den Homer empfinden koͤnne. „Kennſt du die Schrif-
ten der Philoſophen?„ Nein, denn ich verſtehe ſie
nicht.„ Du gefaͤllſt mir, junger Menſch! Wie hoch
haltet ihr ihn, mein Freund? Er ſollte, wie die an-
dern, durch den Herold ausgerufen werden, antwortete
der Cilicier, aber fuͤr zwey Talente iſt er euer. Begleite
mich
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