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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
er seinen Augen um so weniger erlauben konnte, sich
darauf zu verweilen, je vollkommner die Natur darin
nachgeahmt war, und je mehr sich d[unleserliches Material - 2 Zeichen fehlen] Genie bemüht
hatte, der Natur selbst neue Reizungen zu leihen. Eben
so weit war die Music, die er alle Abende nach der
Tafel hören konnte, von derjenigen unterschieden, die
seiner Einbildung nach allein der Musen würdig war.
Er liebte eine Music, welche die Leidenschaften besänf-
tigte, und die Seele in ein angenehmes Staunen wiegte,
oder das Lob der Unsterblichen mit einem feurigen
Schwung von Begeistrung sang, wodurch das Herz
in heiliges Entzüken und in ein schauervolles Gefühl der
gegenwärtigen Gottheit gesezt wurde; und wenn sie
Zärtlichkeit und Freude ausdrükte, so sollte es die Zärt-
lichkeit der Unschuld und die rührende Freude der ein-
fältigen Natur seyn. Allein in diesem Hause hatte man
einen ganz andern Geschmak. Was Agathon hörte,
waren Syrenen-Gesänge, die den üppigsten Liedern des
tejischen Dichters einen Reiz gaben, der auch aus un-
angenehmen Lippen verführerisch gewesen wäre; Ge-
sänge, die durch den nachahmenden Ausdruk des ver-
schiednen Tons der schmeichelnden, seufzenden und
schmachtenden, oder der triumphierenden und in Entzü-
kung aufgelösten Leidenschaft die Begierde erregten, das-
jenige zu erfahren, was in der Nachahmung schon so
reizend war; Lydische Flöten, deren girrendes, verlieb-
tes Flüstern die redenden Bewegungen der Tänzerinnen
ergänzte, und ihrem Spiel eine Deutlichkeit gab, die
der Einbildungs-Kraft nichts zu errathen übrig ließ;

Sym-

Agathon.
er ſeinen Augen um ſo weniger erlauben konnte, ſich
darauf zu verweilen, je vollkommner die Natur darin
nachgeahmt war, und je mehr ſich d[unleserliches Material – 2 Zeichen fehlen] Genie bemuͤht
hatte, der Natur ſelbſt neue Reizungen zu leihen. Eben
ſo weit war die Muſic, die er alle Abende nach der
Tafel hoͤren konnte, von derjenigen unterſchieden, die
ſeiner Einbildung nach allein der Muſen wuͤrdig war.
Er liebte eine Muſic, welche die Leidenſchaften beſaͤnf-
tigte, und die Seele in ein angenehmes Staunen wiegte,
oder das Lob der Unſterblichen mit einem feurigen
Schwung von Begeiſtrung ſang, wodurch das Herz
in heiliges Entzuͤken und in ein ſchauervolles Gefuͤhl der
gegenwaͤrtigen Gottheit geſezt wurde; und wenn ſie
Zaͤrtlichkeit und Freude ausdruͤkte, ſo ſollte es die Zaͤrt-
lichkeit der Unſchuld und die ruͤhrende Freude der ein-
faͤltigen Natur ſeyn. Allein in dieſem Hauſe hatte man
einen ganz andern Geſchmak. Was Agathon hoͤrte,
waren Syrenen-Geſaͤnge, die den uͤppigſten Liedern des
tejiſchen Dichters einen Reiz gaben, der auch aus un-
angenehmen Lippen verfuͤhreriſch geweſen waͤre; Ge-
ſaͤnge, die durch den nachahmenden Ausdruk des ver-
ſchiednen Tons der ſchmeichelnden, ſeufzenden und
ſchmachtenden, oder der triumphierenden und in Entzuͤ-
kung aufgeloͤsten Leidenſchaft die Begierde erregten, das-
jenige zu erfahren, was in der Nachahmung ſchon ſo
reizend war; Lydiſche Floͤten, deren girrendes, verlieb-
tes Fluͤſtern die redenden Bewegungen der Taͤnzerinnen
ergaͤnzte, und ihrem Spiel eine Deutlichkeit gab, die
der Einbildungs-Kraft nichts zu errathen uͤbrig ließ;

Sym-
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[52/0074] Agathon. er ſeinen Augen um ſo weniger erlauben konnte, ſich darauf zu verweilen, je vollkommner die Natur darin nachgeahmt war, und je mehr ſich d__ Genie bemuͤht hatte, der Natur ſelbſt neue Reizungen zu leihen. Eben ſo weit war die Muſic, die er alle Abende nach der Tafel hoͤren konnte, von derjenigen unterſchieden, die ſeiner Einbildung nach allein der Muſen wuͤrdig war. Er liebte eine Muſic, welche die Leidenſchaften beſaͤnf- tigte, und die Seele in ein angenehmes Staunen wiegte, oder das Lob der Unſterblichen mit einem feurigen Schwung von Begeiſtrung ſang, wodurch das Herz in heiliges Entzuͤken und in ein ſchauervolles Gefuͤhl der gegenwaͤrtigen Gottheit geſezt wurde; und wenn ſie Zaͤrtlichkeit und Freude ausdruͤkte, ſo ſollte es die Zaͤrt- lichkeit der Unſchuld und die ruͤhrende Freude der ein- faͤltigen Natur ſeyn. Allein in dieſem Hauſe hatte man einen ganz andern Geſchmak. Was Agathon hoͤrte, waren Syrenen-Geſaͤnge, die den uͤppigſten Liedern des tejiſchen Dichters einen Reiz gaben, der auch aus un- angenehmen Lippen verfuͤhreriſch geweſen waͤre; Ge- ſaͤnge, die durch den nachahmenden Ausdruk des ver- ſchiednen Tons der ſchmeichelnden, ſeufzenden und ſchmachtenden, oder der triumphierenden und in Entzuͤ- kung aufgeloͤsten Leidenſchaft die Begierde erregten, das- jenige zu erfahren, was in der Nachahmung ſchon ſo reizend war; Lydiſche Floͤten, deren girrendes, verlieb- tes Fluͤſtern die redenden Bewegungen der Taͤnzerinnen ergaͤnzte, und ihrem Spiel eine Deutlichkeit gab, die der Einbildungs-Kraft nichts zu errathen uͤbrig ließ; Sym-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/74>, abgerufen am 24.11.2024.