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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
Hippias.
O Jüngling, lange genug hab ich deinen Ausschweif-
fungen zugehört. Jn was für ein Gewebe von Hirn-
gespinsten hat dich die Lebhaftigkeit deiner Einbildungs-
kraft verwikelt? Deine Seele schwebt in einer bestän-
digen Bezauberung, in einer Abwechselung von quälen-
den und entzükenden Träumen, und die wahre Be-
schaffenheit der Dinge bleibt dir so verborgen, als die
sichtbare Gestalt der Welt einem Blindgebornen. Jch
bedaure dich, Callias. Deine Gestalt, deine Gaben
berechtigen dich nach allem zu trachten, was das mensch-
liche Leben glükliches hat; deine Denkungsart allein
wird dich unglüklich machen. Angewöhnt lauter idea-
lische Wesen um dich her zu sehen, wirst du die Kunst
niemals lernen, von den Menschen Vortheil zu ziehen.
Du wirst in einer Welt, die dich so wenig kennen wird
als du sie, wie ein Einwohner des Monds herum ir-
ren, und nirgends am rechten Plaze seyn, als in einer
Einöde oder im Fasse des Diogenes. Was soll man
mit einem Menschen anfangen, der Geister sieht? Der
von der Tugend fodert, daß sie mit aller Welt und
mit sich selbst in beständigem Kriege leben soll? Mit
einem Menschen, der sich in den Mondschein hinsezt,
und Betrachtungen über das Glük der entkörperten
Geister anstellt? Glaube mir, Callias, (ich kenne die
Welt und sehe keine Geister) deine Philosophie mag
vielleicht gut genug seyn eine Gesellschaft müßiger Köpfe
statt eines andern Spiels zu belustigen; aber es ist ei-
ne Thorheit sie ausüben zu wollen. Doch du bist jung;
die
Agathon.
Hippias.
O Juͤngling, lange genug hab ich deinen Ausſchweif-
fungen zugehoͤrt. Jn was fuͤr ein Gewebe von Hirn-
geſpinſten hat dich die Lebhaftigkeit deiner Einbildungs-
kraft verwikelt? Deine Seele ſchwebt in einer beſtaͤn-
digen Bezauberung, in einer Abwechſelung von quaͤlen-
den und entzuͤkenden Traͤumen, und die wahre Be-
ſchaffenheit der Dinge bleibt dir ſo verborgen, als die
ſichtbare Geſtalt der Welt einem Blindgebornen. Jch
bedaure dich, Callias. Deine Geſtalt, deine Gaben
berechtigen dich nach allem zu trachten, was das menſch-
liche Leben gluͤkliches hat; deine Denkungsart allein
wird dich ungluͤklich machen. Angewoͤhnt lauter idea-
liſche Weſen um dich her zu ſehen, wirſt du die Kunſt
niemals lernen, von den Menſchen Vortheil zu ziehen.
Du wirſt in einer Welt, die dich ſo wenig kennen wird
als du ſie, wie ein Einwohner des Monds herum ir-
ren, und nirgends am rechten Plaze ſeyn, als in einer
Einoͤde oder im Faſſe des Diogenes. Was ſoll man
mit einem Menſchen anfangen, der Geiſter ſieht? Der
von der Tugend fodert, daß ſie mit aller Welt und
mit ſich ſelbſt in beſtaͤndigem Kriege leben ſoll? Mit
einem Menſchen, der ſich in den Mondſchein hinſezt,
und Betrachtungen uͤber das Gluͤk der entkoͤrperten
Geiſter anſtellt? Glaube mir, Callias, (ich kenne die
Welt und ſehe keine Geiſter) deine Philoſophie mag
vielleicht gut genug ſeyn eine Geſellſchaft muͤßiger Koͤpfe
ſtatt eines andern Spiels zu beluſtigen; aber es iſt ei-
ne Thorheit ſie ausuͤben zu wollen. Doch du biſt jung;
die
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[66/0088] Agathon. Hippias. O Juͤngling, lange genug hab ich deinen Ausſchweif- fungen zugehoͤrt. Jn was fuͤr ein Gewebe von Hirn- geſpinſten hat dich die Lebhaftigkeit deiner Einbildungs- kraft verwikelt? Deine Seele ſchwebt in einer beſtaͤn- digen Bezauberung, in einer Abwechſelung von quaͤlen- den und entzuͤkenden Traͤumen, und die wahre Be- ſchaffenheit der Dinge bleibt dir ſo verborgen, als die ſichtbare Geſtalt der Welt einem Blindgebornen. Jch bedaure dich, Callias. Deine Geſtalt, deine Gaben berechtigen dich nach allem zu trachten, was das menſch- liche Leben gluͤkliches hat; deine Denkungsart allein wird dich ungluͤklich machen. Angewoͤhnt lauter idea- liſche Weſen um dich her zu ſehen, wirſt du die Kunſt niemals lernen, von den Menſchen Vortheil zu ziehen. Du wirſt in einer Welt, die dich ſo wenig kennen wird als du ſie, wie ein Einwohner des Monds herum ir- ren, und nirgends am rechten Plaze ſeyn, als in einer Einoͤde oder im Faſſe des Diogenes. Was ſoll man mit einem Menſchen anfangen, der Geiſter ſieht? Der von der Tugend fodert, daß ſie mit aller Welt und mit ſich ſelbſt in beſtaͤndigem Kriege leben ſoll? Mit einem Menſchen, der ſich in den Mondſchein hinſezt, und Betrachtungen uͤber das Gluͤk der entkoͤrperten Geiſter anſtellt? Glaube mir, Callias, (ich kenne die Welt und ſehe keine Geiſter) deine Philoſophie mag vielleicht gut genug ſeyn eine Geſellſchaft muͤßiger Koͤpfe ſtatt eines andern Spiels zu beluſtigen; aber es iſt ei- ne Thorheit ſie ausuͤben zu wollen. Doch du biſt jung; die

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/88>, abgerufen am 21.11.2024.