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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Zweytes Buch, sechstes Capitel.
die Einsamkeit deiner ersten Jugend und die morgenlän-
dischen Schwärmereyen, die etliche griechische Müßiggän-
ger von den Egyptern und Chaldäern nach Hause ge-
bracht, haben deiner Phantasie einen romanhaften
Schwung gegeben; die übermäßige Empfindlichkeit dei-
ner Organisation hat den angenehmen Betrug befödert;
Leuten von dieser Art ist nichts schön genug, was sie
sehen, nichts angenehm genug, was sie fühlen;
die Phantasie muß ihnen andre Welten erschaffen, die
Unersättlichkeit ihres Herzens zu befriedigen. Allein
diesem Uebel kann noch geholfen werden. Selbst in den
Ausschweiffungen deiner Einbildungskraft entdekt sich
eine natürliche Richtigkeit des Verstandes, der nichts
fehlt als auf andre Gegenstände angewendet zu werden.
Ein wenig Gelehrigkeit und eine unpartheyische Ueber-
legung dessen, was ich dir sagen werde, ist alles was
du nöthig hast, um von dieser seltsamen Art von
Wahnwiz geheilt zu werden, die du für Weisheit hältst.
Ueberlaß es mir, dich aus den unsichtbaren Welten in
die würkliche herabzuführen; sie wird dich anfangs be-
fremden, aber nur weil sie dir neu ist, und wenn du
sie einmal gewohnt bist, wirst du die ätherischen so we-
nig vermissen als ein erwachsner die Spiele seiner Kind-
heit. Diese Schwärmereyen sind Kinder der Einsam-
keit und der Musse; ein Mensch der nach angenehmen
Empfindungen dürstet, und der Mittel beraubt ist, sich
würkliche zu verschaffen, ist genöthiget sich mit Einbil-
dungen zu speisen, und aus Mangel einer bessern Ge-
sellschaft mit den Sylphen umzugehen. Die Erfahrung
wird
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Zweytes Buch, ſechſtes Capitel.
die Einſamkeit deiner erſten Jugend und die morgenlaͤn-
diſchen Schwaͤrmereyen, die etliche griechiſche Muͤßiggaͤn-
ger von den Egyptern und Chaldaͤern nach Hauſe ge-
bracht, haben deiner Phantaſie einen romanhaften
Schwung gegeben; die uͤbermaͤßige Empfindlichkeit dei-
ner Organiſation hat den angenehmen Betrug befoͤdert;
Leuten von dieſer Art iſt nichts ſchoͤn genug, was ſie
ſehen, nichts angenehm genug, was ſie fuͤhlen;
die Phantaſie muß ihnen andre Welten erſchaffen, die
Unerſaͤttlichkeit ihres Herzens zu befriedigen. Allein
dieſem Uebel kann noch geholfen werden. Selbſt in den
Ausſchweiffungen deiner Einbildungskraft entdekt ſich
eine natuͤrliche Richtigkeit des Verſtandes, der nichts
fehlt als auf andre Gegenſtaͤnde angewendet zu werden.
Ein wenig Gelehrigkeit und eine unpartheyiſche Ueber-
legung deſſen, was ich dir ſagen werde, iſt alles was
du noͤthig haſt, um von dieſer ſeltſamen Art von
Wahnwiz geheilt zu werden, die du fuͤr Weisheit haͤltſt.
Ueberlaß es mir, dich aus den unſichtbaren Welten in
die wuͤrkliche herabzufuͤhren; ſie wird dich anfangs be-
fremden, aber nur weil ſie dir neu iſt, und wenn du
ſie einmal gewohnt biſt, wirſt du die aͤtheriſchen ſo we-
nig vermiſſen als ein erwachſner die Spiele ſeiner Kind-
heit. Dieſe Schwaͤrmereyen ſind Kinder der Einſam-
keit und der Muſſe; ein Menſch der nach angenehmen
Empfindungen duͤrſtet, und der Mittel beraubt iſt, ſich
wuͤrkliche zu verſchaffen, iſt genoͤthiget ſich mit Einbil-
dungen zu ſpeiſen, und aus Mangel einer beſſern Ge-
ſellſchaft mit den Sylphen umzugehen. Die Erfahrung
wird
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[67/0089] Zweytes Buch, ſechſtes Capitel. die Einſamkeit deiner erſten Jugend und die morgenlaͤn- diſchen Schwaͤrmereyen, die etliche griechiſche Muͤßiggaͤn- ger von den Egyptern und Chaldaͤern nach Hauſe ge- bracht, haben deiner Phantaſie einen romanhaften Schwung gegeben; die uͤbermaͤßige Empfindlichkeit dei- ner Organiſation hat den angenehmen Betrug befoͤdert; Leuten von dieſer Art iſt nichts ſchoͤn genug, was ſie ſehen, nichts angenehm genug, was ſie fuͤhlen; die Phantaſie muß ihnen andre Welten erſchaffen, die Unerſaͤttlichkeit ihres Herzens zu befriedigen. Allein dieſem Uebel kann noch geholfen werden. Selbſt in den Ausſchweiffungen deiner Einbildungskraft entdekt ſich eine natuͤrliche Richtigkeit des Verſtandes, der nichts fehlt als auf andre Gegenſtaͤnde angewendet zu werden. Ein wenig Gelehrigkeit und eine unpartheyiſche Ueber- legung deſſen, was ich dir ſagen werde, iſt alles was du noͤthig haſt, um von dieſer ſeltſamen Art von Wahnwiz geheilt zu werden, die du fuͤr Weisheit haͤltſt. Ueberlaß es mir, dich aus den unſichtbaren Welten in die wuͤrkliche herabzufuͤhren; ſie wird dich anfangs be- fremden, aber nur weil ſie dir neu iſt, und wenn du ſie einmal gewohnt biſt, wirſt du die aͤtheriſchen ſo we- nig vermiſſen als ein erwachſner die Spiele ſeiner Kind- heit. Dieſe Schwaͤrmereyen ſind Kinder der Einſam- keit und der Muſſe; ein Menſch der nach angenehmen Empfindungen duͤrſtet, und der Mittel beraubt iſt, ſich wuͤrkliche zu verſchaffen, iſt genoͤthiget ſich mit Einbil- dungen zu ſpeiſen, und aus Mangel einer beſſern Ge- ſellſchaft mit den Sylphen umzugehen. Die Erfahrung wird E 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/89>, abgerufen am 21.11.2024.