Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Zweytes Buch, siebentes Capitel. die begeisternde Flöte eines Damon in alle Glieder sei-ner Hörer bringt, dem Wein oder der Unsinnigkeit zu- schreibt; er würde tanzen wie sie, wenn er hören könnte. Die Weltleute sind in der That nicht zu ver- denken, wenn sie uns andre für ein wenig mondsüchtig halten; wer will ihnen zumuthen, daß sie glauben sol- len, es fehle ihnen etwas, das zu einem vollständigen Menschen gehört? Jch kannte zu Athen ein junges Frauenzimmer, welches die Natur wegen der Häßlich- keit ihrer übrigen Figur durch sehr artige Füsse getrö- stet hatte. Jch möchte doch wissen, sagte sie zu einer Freundin, was diese jungen Geken an der einbildischen Timandra sehen, daß sie sonst für niemand Augen ha- ben als für sie? Es ist wahr, sie hat keine unfeine Farbe, ihre Züge sind so so, ihre Augen wenigstens aufmunternd genug, und sie ist sehr besorgt, ihre Be- wunderer durch Auslegung gewisser schlüpfriger Schön- heiten für die Gleichgültigkeit ihres Gesichts schadlos zu halten; aber was sie für Füsse hat! Wie kann man einen Anspruch an Schönheit machen, ohne einen fei- nen Fuß zu haben? Du hast Recht, versezte die Freun- din, die der Natur nichts schönes zu danken hatte, als ein paar überaus kleine Ohren; man muß einen Fuß haben wie du, um schön zu seyn; aber was sagst du zu ihren Ohren, Hermia? So wahr mir Diana gnä- dig sey, sie würden einem Faunen Ehre machen. So sind die Menschen, und es wäre unbillig ihnen übel zu nehmen, daß sie so sind. Die Rachtigall singt, der Rabe krächzt, und er müßte kein Rabe seyn, wenn er nicht E 4
Zweytes Buch, ſiebentes Capitel. die begeiſternde Floͤte eines Damon in alle Glieder ſei-ner Hoͤrer bringt, dem Wein oder der Unſinnigkeit zu- ſchreibt; er wuͤrde tanzen wie ſie, wenn er hoͤren koͤnnte. Die Weltleute ſind in der That nicht zu ver- denken, wenn ſie uns andre fuͤr ein wenig mondſuͤchtig halten; wer will ihnen zumuthen, daß ſie glauben ſol- len, es fehle ihnen etwas, das zu einem vollſtaͤndigen Menſchen gehoͤrt? Jch kannte zu Athen ein junges Frauenzimmer, welches die Natur wegen der Haͤßlich- keit ihrer uͤbrigen Figur durch ſehr artige Fuͤſſe getroͤ- ſtet hatte. Jch moͤchte doch wiſſen, ſagte ſie zu einer Freundin, was dieſe jungen Geken an der einbildiſchen Timandra ſehen, daß ſie ſonſt fuͤr niemand Augen ha- ben als fuͤr ſie? Es iſt wahr, ſie hat keine unfeine Farbe, ihre Zuͤge ſind ſo ſo, ihre Augen wenigſtens aufmunternd genug, und ſie iſt ſehr beſorgt, ihre Be- wunderer durch Auslegung gewiſſer ſchluͤpfriger Schoͤn- heiten fuͤr die Gleichguͤltigkeit ihres Geſichts ſchadlos zu halten; aber was ſie fuͤr Fuͤſſe hat! Wie kann man einen Anſpruch an Schoͤnheit machen, ohne einen fei- nen Fuß zu haben? Du haſt Recht, verſezte die Freun- din, die der Natur nichts ſchoͤnes zu danken hatte, als ein paar uͤberaus kleine Ohren; man muß einen Fuß haben wie du, um ſchoͤn zu ſeyn; aber was ſagſt du zu ihren Ohren, Hermia? So wahr mir Diana gnaͤ- dig ſey, ſie wuͤrden einem Faunen Ehre machen. So ſind die Menſchen, und es waͤre unbillig ihnen uͤbel zu nehmen, daß ſie ſo ſind. Die Rachtigall ſingt, der Rabe kraͤchzt, und er muͤßte kein Rabe ſeyn, wenn er nicht E 4
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Zweytes Buch, ſiebentes Capitel.
die begeiſternde Floͤte eines Damon in alle Glieder ſei-
ner Hoͤrer bringt, dem Wein oder der Unſinnigkeit zu-
ſchreibt; er wuͤrde tanzen wie ſie, wenn er hoͤren
koͤnnte. Die Weltleute ſind in der That nicht zu ver-
denken, wenn ſie uns andre fuͤr ein wenig mondſuͤchtig
halten; wer will ihnen zumuthen, daß ſie glauben ſol-
len, es fehle ihnen etwas, das zu einem vollſtaͤndigen
Menſchen gehoͤrt? Jch kannte zu Athen ein junges
Frauenzimmer, welches die Natur wegen der Haͤßlich-
keit ihrer uͤbrigen Figur durch ſehr artige Fuͤſſe getroͤ-
ſtet hatte. Jch moͤchte doch wiſſen, ſagte ſie zu einer
Freundin, was dieſe jungen Geken an der einbildiſchen
Timandra ſehen, daß ſie ſonſt fuͤr niemand Augen ha-
ben als fuͤr ſie? Es iſt wahr, ſie hat keine unfeine
Farbe, ihre Zuͤge ſind ſo ſo, ihre Augen wenigſtens
aufmunternd genug, und ſie iſt ſehr beſorgt, ihre Be-
wunderer durch Auslegung gewiſſer ſchluͤpfriger Schoͤn-
heiten fuͤr die Gleichguͤltigkeit ihres Geſichts ſchadlos
zu halten; aber was ſie fuͤr Fuͤſſe hat! Wie kann man
einen Anſpruch an Schoͤnheit machen, ohne einen fei-
nen Fuß zu haben? Du haſt Recht, verſezte die Freun-
din, die der Natur nichts ſchoͤnes zu danken hatte, als
ein paar uͤberaus kleine Ohren; man muß einen Fuß
haben wie du, um ſchoͤn zu ſeyn; aber was ſagſt du zu
ihren Ohren, Hermia? So wahr mir Diana gnaͤ-
dig ſey, ſie wuͤrden einem Faunen Ehre machen. So
ſind die Menſchen, und es waͤre unbillig ihnen uͤbel zu
nehmen, daß ſie ſo ſind. Die Rachtigall ſingt, der
Rabe kraͤchzt, und er muͤßte kein Rabe ſeyn, wenn er
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Zitationshilfe: | Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/93>, abgerufen am 16.02.2025. |