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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
nicht dächte, daß er gut krächze; er hat noch recht,
wenn er denkt, die Nachtigall krächze nicht gut; es ist
wahr, dann geht er zu weit, wenn er über die Rach-
tigall spottet, daß sie nicht so gut krächzt wie er; aber
sie würde eben so Unrecht haben, wenn sie über ihn
lachte, daß er nicht singe wie sie; er singt nicht, aber
er krächzt doch gut, und das ist für ihn genug. Aber
Hippias ist besorgt für mich, er bedaurt mich, er will
mich so glüklich machen, wie er ist. Das ist groß-
müthig! Er hat ausfündig gemacht, daß ich das
Schöne liebe, daß ich gegen den Reiz, des Vergnü-
gens nicht unempfindlich bin. Diese Entdekung war
leicht zu machen; aber in den Schlüssen, die er daraus
zieht, könnt' er sich betrogen haben. Der kluge Ulysses
zog sein steinichtes kleines Jthaca, wo er frey war, und
sein altes Weib mit der er vor zwanzig Jahren jung
gewesen war, der bezauberten Jnsel der schönen Ca-
lypso vor, wo er unsterblich und ein Sclave gewesen
wäre; und der Schwärmer Agathon würde mit allem
seinem Geschmak für das Schöne, und mit aller seiner
Empfindlichkeit für die Ergözungen, ohne sich einen
Augenblik zu bedenken, lieber in das Faß des Dioge-
nes kriechen, als den Palast, die Gärten, das Serail
und die Reichthümer des weisen Hippias besizen, und
Hippias seyn.

Jmmer Selbstgespräche, hören wir den Leser sagen.
Wenigstens ist dieses eines, und wer kann davor?
Agathon hatte sonst niemand, mit dem er hätte reden
können als sich selbst; denn mit den Bäumen und

Nymphen

Agathon.
nicht daͤchte, daß er gut kraͤchze; er hat noch recht,
wenn er denkt, die Nachtigall kraͤchze nicht gut; es iſt
wahr, dann geht er zu weit, wenn er uͤber die Rach-
tigall ſpottet, daß ſie nicht ſo gut kraͤchzt wie er; aber
ſie wuͤrde eben ſo Unrecht haben, wenn ſie uͤber ihn
lachte, daß er nicht ſinge wie ſie; er ſingt nicht, aber
er kraͤchzt doch gut, und das iſt fuͤr ihn genug. Aber
Hippias iſt beſorgt fuͤr mich, er bedaurt mich, er will
mich ſo gluͤklich machen, wie er iſt. Das iſt groß-
muͤthig! Er hat ausfuͤndig gemacht, daß ich das
Schoͤne liebe, daß ich gegen den Reiz, des Vergnuͤ-
gens nicht unempfindlich bin. Dieſe Entdekung war
leicht zu machen; aber in den Schluͤſſen, die er daraus
zieht, koͤnnt’ er ſich betrogen haben. Der kluge Ulyſſes
zog ſein ſteinichtes kleines Jthaca, wo er frey war, und
ſein altes Weib mit der er vor zwanzig Jahren jung
geweſen war, der bezauberten Jnſel der ſchoͤnen Ca-
lypſo vor, wo er unſterblich und ein Sclave geweſen
waͤre; und der Schwaͤrmer Agathon wuͤrde mit allem
ſeinem Geſchmak fuͤr das Schoͤne, und mit aller ſeiner
Empfindlichkeit fuͤr die Ergoͤzungen, ohne ſich einen
Augenblik zu bedenken, lieber in das Faß des Dioge-
nes kriechen, als den Palaſt, die Gaͤrten, das Serail
und die Reichthuͤmer des weiſen Hippias beſizen, und
Hippias ſeyn.

Jmmer Selbſtgeſpraͤche, hoͤren wir den Leſer ſagen.
Wenigſtens iſt dieſes eines, und wer kann davor?
Agathon hatte ſonſt niemand, mit dem er haͤtte reden
koͤnnen als ſich ſelbſt; denn mit den Baͤumen und

Nymphen
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[72/0094] Agathon. nicht daͤchte, daß er gut kraͤchze; er hat noch recht, wenn er denkt, die Nachtigall kraͤchze nicht gut; es iſt wahr, dann geht er zu weit, wenn er uͤber die Rach- tigall ſpottet, daß ſie nicht ſo gut kraͤchzt wie er; aber ſie wuͤrde eben ſo Unrecht haben, wenn ſie uͤber ihn lachte, daß er nicht ſinge wie ſie; er ſingt nicht, aber er kraͤchzt doch gut, und das iſt fuͤr ihn genug. Aber Hippias iſt beſorgt fuͤr mich, er bedaurt mich, er will mich ſo gluͤklich machen, wie er iſt. Das iſt groß- muͤthig! Er hat ausfuͤndig gemacht, daß ich das Schoͤne liebe, daß ich gegen den Reiz, des Vergnuͤ- gens nicht unempfindlich bin. Dieſe Entdekung war leicht zu machen; aber in den Schluͤſſen, die er daraus zieht, koͤnnt’ er ſich betrogen haben. Der kluge Ulyſſes zog ſein ſteinichtes kleines Jthaca, wo er frey war, und ſein altes Weib mit der er vor zwanzig Jahren jung geweſen war, der bezauberten Jnſel der ſchoͤnen Ca- lypſo vor, wo er unſterblich und ein Sclave geweſen waͤre; und der Schwaͤrmer Agathon wuͤrde mit allem ſeinem Geſchmak fuͤr das Schoͤne, und mit aller ſeiner Empfindlichkeit fuͤr die Ergoͤzungen, ohne ſich einen Augenblik zu bedenken, lieber in das Faß des Dioge- nes kriechen, als den Palaſt, die Gaͤrten, das Serail und die Reichthuͤmer des weiſen Hippias beſizen, und Hippias ſeyn. Jmmer Selbſtgeſpraͤche, hoͤren wir den Leſer ſagen. Wenigſtens iſt dieſes eines, und wer kann davor? Agathon hatte ſonſt niemand, mit dem er haͤtte reden koͤnnen als ſich ſelbſt; denn mit den Baͤumen und Nymphen

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/94>, abgerufen am 21.11.2024.