Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Agathon. wenig man auf sie Rechnung machen, und (was daswichtigste für ihn war) wie wenig man sich auf sich selbst verlassen darf. Er hatte gelernt, wieviel man den Umständen nachgeben muß; daß der vollkommenste Entwurf an sich selbst oft der schlechteste unter den ge- gebenen Umständen ist; daß sich das Böse nicht auf ein- mal gut machen läßt; daß sich in der moralischen Welt, wie in der materialischen, nichts in gerader Linie fortbewegt, und daß man selten anders als durch viele Krümmen und Wendungen zu einem guten Zwek gelangen kan -- Kurz, daß das Leben, zumal eines ächten Staats-Mannes, einer Schiffart gleicht, wo der Pilot sich gefallen lassen muß, seinen Lauf nach Wind und Wetter einzurichten; wo er keinen Augenblik sicher ist durch widrige Ströme aufgehalten oder seit- wärts getrieben zu werden; und wo alles darauf an- kommt, mitten unter tausend unfreywilligen Abweichun- gen von der Linie, die er sich in seiner Carte gezogen hat, endlich dennoch, und so bald und wolbehalten als möglich, an dem vorgesezten Ort anzulangen. Diesen allgemeinen Grundsäzen zufolge bestimmte er reden,
Agathon. wenig man auf ſie Rechnung machen, und (was daswichtigſte fuͤr ihn war) wie wenig man ſich auf ſich ſelbſt verlaſſen darf. Er hatte gelernt, wieviel man den Umſtaͤnden nachgeben muß; daß der vollkommenſte Entwurf an ſich ſelbſt oft der ſchlechteſte unter den ge- gebenen Umſtaͤnden iſt; daß ſich das Boͤſe nicht auf ein- mal gut machen laͤßt; daß ſich in der moraliſchen Welt, wie in der materialiſchen, nichts in gerader Linie fortbewegt, und daß man ſelten anders als durch viele Kruͤmmen und Wendungen zu einem guten Zwek gelangen kan ‒‒ Kurz, daß das Leben, zumal eines aͤchten Staats-Mannes, einer Schiffart gleicht, wo der Pilot ſich gefallen laſſen muß, ſeinen Lauf nach Wind und Wetter einzurichten; wo er keinen Augenblik ſicher iſt durch widrige Stroͤme aufgehalten oder ſeit- waͤrts getrieben zu werden; und wo alles darauf an- kommt, mitten unter tauſend unfreywilligen Abweichun- gen von der Linie, die er ſich in ſeiner Carte gezogen hat, endlich dennoch, und ſo bald und wolbehalten als moͤglich, an dem vorgeſezten Ort anzulangen. Dieſen allgemeinen Grundſaͤzen zufolge beſtimmte er reden,
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Agathon.
wenig man auf ſie Rechnung machen, und (was das
wichtigſte fuͤr ihn war) wie wenig man ſich auf ſich
ſelbſt verlaſſen darf. Er hatte gelernt, wieviel man
den Umſtaͤnden nachgeben muß; daß der vollkommenſte
Entwurf an ſich ſelbſt oft der ſchlechteſte unter den ge-
gebenen Umſtaͤnden iſt; daß ſich das Boͤſe nicht auf ein-
mal gut machen laͤßt; daß ſich in der moraliſchen
Welt, wie in der materialiſchen, nichts in gerader
Linie fortbewegt, und daß man ſelten anders als durch
viele Kruͤmmen und Wendungen zu einem guten Zwek
gelangen kan ‒‒ Kurz, daß das Leben, zumal eines
aͤchten Staats-Mannes, einer Schiffart gleicht, wo
der Pilot ſich gefallen laſſen muß, ſeinen Lauf nach
Wind und Wetter einzurichten; wo er keinen Augenblik
ſicher iſt durch widrige Stroͤme aufgehalten oder ſeit-
waͤrts getrieben zu werden; und wo alles darauf an-
kommt, mitten unter tauſend unfreywilligen Abweichun-
gen von der Linie, die er ſich in ſeiner Carte gezogen
hat, endlich dennoch, und ſo bald und wolbehalten als
moͤglich, an dem vorgeſezten Ort anzulangen.
Dieſen allgemeinen Grundſaͤzen zufolge beſtimmte er
die Abſichten bey allem was er unternahm, den Grad
des Guten, welches er ſich zu erreichen vorſezte, und
ſein Verhalten gegen diejenige, welche ihm dabey am
meiſten hinderlich oder befoͤrderlich ſeyn koͤnnten ‒‒ jenes,
nach dem Zuſammenhang aller Umſtaͤnde, worinn er
die Sachen antraf ‒‒ dieſes nach Beſchaffenheit der Per-
ſonen mit denen er’s zu thun hatte, oder richtiger zu
reden,
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