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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, zweytes Capitel.
zu -- oder wenn sie keine hatten, so hatten sie doch et-
was, dessen Bewegungen sehr gewöhnlich mit den Be-
wegungen des Herzens verwechselt werden; oder wenn
sie auch das nicht hatten, so hatten sie doch Eitelkeit,
und konnten also nicht gleichgültig gegen die eigensinnige
Unempfindlichkeit eines Mannes seyn, welcher eben
dadurch ein Feind wurde, dessen Ueberwindung seine
Siegerin zur Liebenswürdigsten ihres Geschlechts zu er-
klären schien. Jn den Augen der meisten Schönen ist
der Günstling eines Monarchen allezeit ein Adonis; wie
natürlich war also der Wunsch, einen Adonis empfind-
lich zu machen, der noch dazu der Liebling eines Königs,
und in der That, den Namen, und eine gewisse Binde
um den Kopf ausgenommen, der König selbst war?
Man kan sich auf die Geschiklichkeit der schönen Sici-
lianerinnen verlassen, daß sie nichts vergessen haben wer-
den, seiner Kaltsinnigkeit auch nicht den Schatten einer
anständigen Entschuldigung übrig zu lassen. Und wo-
mit hätte sie wol entschuldiget werden können? Es ist
wahr, ein Mann, der mit der Sorge für einen ganzen
Staat beladen ist, hat nicht so viel Musse als ein jun-
ger Herr, der sonst nichts zu thun hat, als sein Ge-
sicht alle Tage ein paarmal im Vorzimmer zu zeigen,
und die übrige Zeit von einer Schönen, und von einer
Gesellschaft zur andern fortzuflattern. Aber man mag
so beschäftiget seyn als man will, so behält man doch
allezeit Stunden für sich selbst, und für sein Vergnügen
übrig; und obgleich Agathon sich seinen Beruf etwas
schwerer machte, als er in unsern Zeiten zu seyn pflegt,

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O 5

Zehentes Buch, zweytes Capitel.
zu ‒‒ oder wenn ſie keine hatten, ſo hatten ſie doch et-
was, deſſen Bewegungen ſehr gewoͤhnlich mit den Be-
wegungen des Herzens verwechſelt werden; oder wenn
ſie auch das nicht hatten, ſo hatten ſie doch Eitelkeit,
und konnten alſo nicht gleichguͤltig gegen die eigenſinnige
Unempfindlichkeit eines Mannes ſeyn, welcher eben
dadurch ein Feind wurde, deſſen Ueberwindung ſeine
Siegerin zur Liebenswuͤrdigſten ihres Geſchlechts zu er-
klaͤren ſchien. Jn den Augen der meiſten Schoͤnen iſt
der Guͤnſtling eines Monarchen allezeit ein Adonis; wie
natuͤrlich war alſo der Wunſch, einen Adonis empfind-
lich zu machen, der noch dazu der Liebling eines Koͤnigs,
und in der That, den Namen, und eine gewiſſe Binde
um den Kopf ausgenommen, der Koͤnig ſelbſt war?
Man kan ſich auf die Geſchiklichkeit der ſchoͤnen Sici-
lianerinnen verlaſſen, daß ſie nichts vergeſſen haben wer-
den, ſeiner Kaltſinnigkeit auch nicht den Schatten einer
anſtaͤndigen Entſchuldigung uͤbrig zu laſſen. Und wo-
mit haͤtte ſie wol entſchuldiget werden koͤnnen? Es iſt
wahr, ein Mann, der mit der Sorge fuͤr einen ganzen
Staat beladen iſt, hat nicht ſo viel Muſſe als ein jun-
ger Herr, der ſonſt nichts zu thun hat, als ſein Ge-
ſicht alle Tage ein paarmal im Vorzimmer zu zeigen,
und die uͤbrige Zeit von einer Schoͤnen, und von einer
Geſellſchaft zur andern fortzuflattern. Aber man mag
ſo beſchaͤftiget ſeyn als man will, ſo behaͤlt man doch
allezeit Stunden fuͤr ſich ſelbſt, und fuͤr ſein Vergnuͤgen
uͤbrig; und obgleich Agathon ſich ſeinen Beruf etwas
ſchwerer machte, als er in unſern Zeiten zu ſeyn pflegt,

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[217/0219] Zehentes Buch, zweytes Capitel. zu ‒‒ oder wenn ſie keine hatten, ſo hatten ſie doch et- was, deſſen Bewegungen ſehr gewoͤhnlich mit den Be- wegungen des Herzens verwechſelt werden; oder wenn ſie auch das nicht hatten, ſo hatten ſie doch Eitelkeit, und konnten alſo nicht gleichguͤltig gegen die eigenſinnige Unempfindlichkeit eines Mannes ſeyn, welcher eben dadurch ein Feind wurde, deſſen Ueberwindung ſeine Siegerin zur Liebenswuͤrdigſten ihres Geſchlechts zu er- klaͤren ſchien. Jn den Augen der meiſten Schoͤnen iſt der Guͤnſtling eines Monarchen allezeit ein Adonis; wie natuͤrlich war alſo der Wunſch, einen Adonis empfind- lich zu machen, der noch dazu der Liebling eines Koͤnigs, und in der That, den Namen, und eine gewiſſe Binde um den Kopf ausgenommen, der Koͤnig ſelbſt war? Man kan ſich auf die Geſchiklichkeit der ſchoͤnen Sici- lianerinnen verlaſſen, daß ſie nichts vergeſſen haben wer- den, ſeiner Kaltſinnigkeit auch nicht den Schatten einer anſtaͤndigen Entſchuldigung uͤbrig zu laſſen. Und wo- mit haͤtte ſie wol entſchuldiget werden koͤnnen? Es iſt wahr, ein Mann, der mit der Sorge fuͤr einen ganzen Staat beladen iſt, hat nicht ſo viel Muſſe als ein jun- ger Herr, der ſonſt nichts zu thun hat, als ſein Ge- ſicht alle Tage ein paarmal im Vorzimmer zu zeigen, und die uͤbrige Zeit von einer Schoͤnen, und von einer Geſellſchaft zur andern fortzuflattern. Aber man mag ſo beſchaͤftiget ſeyn als man will, ſo behaͤlt man doch allezeit Stunden fuͤr ſich ſelbſt, und fuͤr ſein Vergnuͤgen uͤbrig; und obgleich Agathon ſich ſeinen Beruf etwas ſchwerer machte, als er in unſern Zeiten zu ſeyn pflegt, nach- O 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/219>, abgerufen am 24.11.2024.