jeder Betrachtung so verhaßtes Phänomen empfinden mußte.
Unsre Leser, welche nicht vergessen haben können, was Agathon zu Smyrna war, werden so gleich auf einen Gedanken kommen, welcher freylich den Damen zu Sy- racus unmöglich einfallen konnte -- nehmlich, daß es ihnen vielleicht an Reizungen gefehlt habe, um einen hinlänglichen Eindruk auf ein Herz zu machen, welches nach einer Danae (welch ein Gemählde macht dieses einzige Wort!) nicht leicht etwas würdig finden konnte, seine Neugier rege zu machen. Allein wenn die Nach- richten, denen wir in dieser Geschichte folgen, Glauben verdienen, so hat eine den mehr bemeldten Damen so wenig schmeichelnde Vermuthung nicht den geringsten Grund: Syracus hatte Schönen, welche so gut als Danae, den Polycleten zu Modellen hätten dienen kön- nen; und diese Schönen hatten alle noch etwas dazu, das die Schönheit gelten macht; einige Wiz, andre Zärtlichkeit; andre wenigstens ein gutes Theil von die- ser edeln Unverschämtheit, welche eine gewisse Classe von modernen Damen zu caracterisiren scheint, und zu- weilen schneller zum Zwek führt als die vollkommensten Reizungen, welche unter dem Schleyer der Bescheiden- heit verstekt, ein nachtheiliges Mißtrauen in sich selbst zu verrathen scheinen. Es konnte also nicht das seyn -- Gut! So wird er sich etwan des Socratischen Geheim- nisses bedient, und in den verschwiegenen Liebkosungen irgend einer gefälligen Cypassis das leichteste Mittel ge-
Unſre Leſer, welche nicht vergeſſen haben koͤnnen, was Agathon zu Smyrna war, werden ſo gleich auf einen Gedanken kommen, welcher freylich den Damen zu Sy- racus unmoͤglich einfallen konnte ‒‒ nehmlich, daß es ihnen vielleicht an Reizungen gefehlt habe, um einen hinlaͤnglichen Eindruk auf ein Herz zu machen, welches nach einer Danae (welch ein Gemaͤhlde macht dieſes einzige Wort!) nicht leicht etwas wuͤrdig finden konnte, ſeine Neugier rege zu machen. Allein wenn die Nach- richten, denen wir in dieſer Geſchichte folgen, Glauben verdienen, ſo hat eine den mehr bemeldten Damen ſo wenig ſchmeichelnde Vermuthung nicht den geringſten Grund: Syracus hatte Schoͤnen, welche ſo gut als Danae, den Polycleten zu Modellen haͤtten dienen koͤn- nen; und dieſe Schoͤnen hatten alle noch etwas dazu, das die Schoͤnheit gelten macht; einige Wiz, andre Zaͤrtlichkeit; andre wenigſtens ein gutes Theil von die- ſer edeln Unverſchaͤmtheit, welche eine gewiſſe Claſſe von modernen Damen zu caracteriſiren ſcheint, und zu- weilen ſchneller zum Zwek fuͤhrt als die vollkommenſten Reizungen, welche unter dem Schleyer der Beſcheiden- heit verſtekt, ein nachtheiliges Mißtrauen in ſich ſelbſt zu verrathen ſcheinen. Es konnte alſo nicht das ſeyn ‒‒ Gut! So wird er ſich etwan des Socratiſchen Geheim- niſſes bedient, und in den verſchwiegenen Liebkoſungen irgend einer gefaͤlligen Cypaſſis das leichteſte Mittel ge-
funden
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Zehentes Buch, zweytes Capitel.
jeder Betrachtung ſo verhaßtes Phaͤnomen empfinden
mußte.
Unſre Leſer, welche nicht vergeſſen haben koͤnnen, was
Agathon zu Smyrna war, werden ſo gleich auf einen
Gedanken kommen, welcher freylich den Damen zu Sy-
racus unmoͤglich einfallen konnte ‒‒ nehmlich, daß es
ihnen vielleicht an Reizungen gefehlt habe, um einen
hinlaͤnglichen Eindruk auf ein Herz zu machen, welches
nach einer Danae (welch ein Gemaͤhlde macht dieſes
einzige Wort!) nicht leicht etwas wuͤrdig finden konnte,
ſeine Neugier rege zu machen. Allein wenn die Nach-
richten, denen wir in dieſer Geſchichte folgen, Glauben
verdienen, ſo hat eine den mehr bemeldten Damen ſo
wenig ſchmeichelnde Vermuthung nicht den geringſten
Grund: Syracus hatte Schoͤnen, welche ſo gut als
Danae, den Polycleten zu Modellen haͤtten dienen koͤn-
nen; und dieſe Schoͤnen hatten alle noch etwas dazu,
das die Schoͤnheit gelten macht; einige Wiz, andre
Zaͤrtlichkeit; andre wenigſtens ein gutes Theil von die-
ſer edeln Unverſchaͤmtheit, welche eine gewiſſe Claſſe
von modernen Damen zu caracteriſiren ſcheint, und zu-
weilen ſchneller zum Zwek fuͤhrt als die vollkommenſten
Reizungen, welche unter dem Schleyer der Beſcheiden-
heit verſtekt, ein nachtheiliges Mißtrauen in ſich ſelbſt
zu verrathen ſcheinen. Es konnte alſo nicht das ſeyn ‒‒
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/221>, abgerufen am 24.11.2024.
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