Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Agathon. in den Augen eines Philosophen ist die Tänzerin Bacchi-dion viel schäzbarer, als diese majestätische Cleonissa, welche mit aller ihrer Metaphysik und Tugend weder mehr noch weniger als eine falsche, herrschsüchtige und boßhafte Creatur ist. Bacchidion hat dem Staat keinen Schaden gethan, und Cleonissa wird unendlich viel Bö- ses thun -- Aus dieser Betrachtung (unterbrach ihn Agathon) habe ich mich für jene und gegen diese er- klärt -- Und doch war es leicht vorherzusehen, daß Cleonissa siegen würde, sagte Aristipp -- Aber ein recht- schaffener Mann, Aristipp, erklärt sich nicht für die Parthey, welche siegen wird, sondern für die, welche Recht, oder doch am wenigsten Unrecht hat -- Mein lieber Agathon, ein rechtschaffener Mann muß, so bald er an einem Hofe leben will, sich eines guten Theils von seiner Rechtschaffenheit abthun, um ihn seiner Klug- heit zu zulegen. Jst es nicht Schade, daß so viel Gutes, das du schon gethan hast, so viel Gutes, das du noch gethan haben würdest, bloß darum verlohren seyn soll, weil du eine schöne Dame nicht verstehen wolltest, da sie dir's so deutlich, daß es der ganze Hof (einen einzigen ausgenommen) verstehen konnte, zu erkennen gab, daß sie schlechterdings -- geliebt seyn wollte. Doch dieser Fehler hätte sich vielleicht wieder gut machen lassen, wenn du nur gefällig genug gewesen wärest, ihre Absichten auf Dionysen zu befördern. Wolltest du auch dieses nicht, war es denn nöthig ihr entgegen zu seyn? Was für Schaden würde daraus er- folgt seyn, wenn du neutral geblieben wärest? Die kleine
Agathon. in den Augen eines Philoſophen iſt die Taͤnzerin Bacchi-dion viel ſchaͤzbarer, als dieſe majeſtaͤtiſche Cleoniſſa, welche mit aller ihrer Metaphyſik und Tugend weder mehr noch weniger als eine falſche, herrſchſuͤchtige und boßhafte Creatur iſt. Bacchidion hat dem Staat keinen Schaden gethan, und Cleoniſſa wird unendlich viel Boͤ- ſes thun ‒‒ Aus dieſer Betrachtung (unterbrach ihn Agathon) habe ich mich fuͤr jene und gegen dieſe er- klaͤrt ‒‒ Und doch war es leicht vorherzuſehen, daß Cleoniſſa ſiegen wuͤrde, ſagte Ariſtipp ‒‒ Aber ein recht- ſchaffener Mann, Ariſtipp, erklaͤrt ſich nicht fuͤr die Parthey, welche ſiegen wird, ſondern fuͤr die, welche Recht, oder doch am wenigſten Unrecht hat ‒‒ Mein lieber Agathon, ein rechtſchaffener Mann muß, ſo bald er an einem Hofe leben will, ſich eines guten Theils von ſeiner Rechtſchaffenheit abthun, um ihn ſeiner Klug- heit zu zulegen. Jſt es nicht Schade, daß ſo viel Gutes, das du ſchon gethan haſt, ſo viel Gutes, das du noch gethan haben wuͤrdeſt, bloß darum verlohren ſeyn ſoll, weil du eine ſchoͤne Dame nicht verſtehen wollteſt, da ſie dir’s ſo deutlich, daß es der ganze Hof (einen einzigen ausgenommen) verſtehen konnte, zu erkennen gab, daß ſie ſchlechterdings ‒‒ geliebt ſeyn wollte. Doch dieſer Fehler haͤtte ſich vielleicht wieder gut machen laſſen, wenn du nur gefaͤllig genug geweſen waͤreſt, ihre Abſichten auf Dionyſen zu befoͤrdern. Wollteſt du auch dieſes nicht, war es denn noͤthig ihr entgegen zu ſeyn? Was fuͤr Schaden wuͤrde daraus er- folgt ſeyn, wenn du neutral geblieben waͤreſt? Die kleine
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Agathon.
in den Augen eines Philoſophen iſt die Taͤnzerin Bacchi-
dion viel ſchaͤzbarer, als dieſe majeſtaͤtiſche Cleoniſſa,
welche mit aller ihrer Metaphyſik und Tugend weder
mehr noch weniger als eine falſche, herrſchſuͤchtige und
boßhafte Creatur iſt. Bacchidion hat dem Staat keinen
Schaden gethan, und Cleoniſſa wird unendlich viel Boͤ-
ſes thun ‒‒ Aus dieſer Betrachtung (unterbrach ihn
Agathon) habe ich mich fuͤr jene und gegen dieſe er-
klaͤrt ‒‒ Und doch war es leicht vorherzuſehen, daß
Cleoniſſa ſiegen wuͤrde, ſagte Ariſtipp ‒‒ Aber ein recht-
ſchaffener Mann, Ariſtipp, erklaͤrt ſich nicht fuͤr die
Parthey, welche ſiegen wird, ſondern fuͤr die, welche
Recht, oder doch am wenigſten Unrecht hat ‒‒ Mein
lieber Agathon, ein rechtſchaffener Mann muß, ſo bald
er an einem Hofe leben will, ſich eines guten Theils
von ſeiner Rechtſchaffenheit abthun, um ihn ſeiner Klug-
heit zu zulegen. Jſt es nicht Schade, daß ſo viel
Gutes, das du ſchon gethan haſt, ſo viel Gutes, das
du noch gethan haben wuͤrdeſt, bloß darum verlohren
ſeyn ſoll, weil du eine ſchoͤne Dame nicht verſtehen
wollteſt, da ſie dir’s ſo deutlich, daß es der ganze Hof
(einen einzigen ausgenommen) verſtehen konnte, zu
erkennen gab, daß ſie ſchlechterdings ‒‒ geliebt ſeyn
wollte. Doch dieſer Fehler haͤtte ſich vielleicht wieder
gut machen laſſen, wenn du nur gefaͤllig genug geweſen
waͤreſt, ihre Abſichten auf Dionyſen zu befoͤrdern.
Wollteſt du auch dieſes nicht, war es denn noͤthig ihr
entgegen zu ſeyn? Was fuͤr Schaden wuͤrde daraus er-
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