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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, fünftes Capitel.
lich gewesen seyn -- und der Himmel weiß, ob es den
Sicilianern desto schlimmer ergangen wäre. Dieses ist
nun das zweyte mal, daß Philistus, ein ächter Anhän-
ger des Systems meines Sophisten, ob er gleich nicht
fähig wäre es so zusammenhängend und scheinbar vor-
zutragen, über Weisheit und Tugend den Sieg davon
getragen hat. -- Und habe ich noch der Erfahrung
vonnöthen, um zu wissen, daß er eben so gewiß über
einen andern Plato, und über einen andern Agathon
siegen würde? -- Wieviel ließ ich von meinen Grund-
säzen nach, wie tief stimmte ich mich selbst herab, da
ich die Unmöglichkeit sah, diejenigen mit denen ich's zu
thun hatte, so weit zu mir heraufzuziehen? Wozu half
es mir? -- ich konnte mich nicht entschliessen niederträch-
tig zu handeln, ein Schmeichler, ein Kuppler, ein
Verräther an dem wahren Jnteresse des Fürsten und des
Landes zu werden -- und so verlor' ich die Gunst des
Fürsten, und die einzige Belohnung, die ich für meine
Arbeiten verlange, die Vortheile, welche dieses Land
von meiner Verwaltung zu geniessen anfieng, auf ein-
mal, weil ich mich nicht dazu bequemen konnte, alles
für anständig und recht zu halten, was nüzlich ist --
O! gewiß Hippias, deine Begriffe und Maximen, deine
Moral, deine Staatskunst, gründen sich auf die Er-
fahrung aller Zeiten. Wenn sind die Menschen jemals
anders gewesen? Wenn haben sie jemals die Tugend
hochgeschäzt, als wenn sie ihrer Dienste benöthigt wa-
ren; und wenn ist sie ihnen nicht verhaßt gewesen, so
bald sie ihren Leidenschaften im Lichte stuhnd?

Diese
S 2

Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.
lich geweſen ſeyn ‒‒ und der Himmel weiß, ob es den
Sicilianern deſto ſchlimmer ergangen waͤre. Dieſes iſt
nun das zweyte mal, daß Philiſtus, ein aͤchter Anhaͤn-
ger des Syſtems meines Sophiſten, ob er gleich nicht
faͤhig waͤre es ſo zuſammenhaͤngend und ſcheinbar vor-
zutragen, uͤber Weisheit und Tugend den Sieg davon
getragen hat. ‒‒ Und habe ich noch der Erfahrung
vonnoͤthen, um zu wiſſen, daß er eben ſo gewiß uͤber
einen andern Plato, und uͤber einen andern Agathon
ſiegen wuͤrde? ‒‒ Wieviel ließ ich von meinen Grund-
ſaͤzen nach, wie tief ſtimmte ich mich ſelbſt herab, da
ich die Unmoͤglichkeit ſah, diejenigen mit denen ich’s zu
thun hatte, ſo weit zu mir heraufzuziehen? Wozu half
es mir? ‒‒ ich konnte mich nicht entſchlieſſen niedertraͤch-
tig zu handeln, ein Schmeichler, ein Kuppler, ein
Verraͤther an dem wahren Jntereſſe des Fuͤrſten und des
Landes zu werden ‒‒ und ſo verlor’ ich die Gunſt des
Fuͤrſten, und die einzige Belohnung, die ich fuͤr meine
Arbeiten verlange, die Vortheile, welche dieſes Land
von meiner Verwaltung zu genieſſen anfieng, auf ein-
mal, weil ich mich nicht dazu bequemen konnte, alles
fuͤr anſtaͤndig und recht zu halten, was nuͤzlich iſt ‒‒
O! gewiß Hippias, deine Begriffe und Maximen, deine
Moral, deine Staatskunſt, gruͤnden ſich auf die Er-
fahrung aller Zeiten. Wenn ſind die Menſchen jemals
anders geweſen? Wenn haben ſie jemals die Tugend
hochgeſchaͤzt, als wenn ſie ihrer Dienſte benoͤthigt wa-
ren; und wenn iſt ſie ihnen nicht verhaßt geweſen, ſo
bald ſie ihren Leidenſchaften im Lichte ſtuhnd?

Dieſe
S 2
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[275/0277] Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. lich geweſen ſeyn ‒‒ und der Himmel weiß, ob es den Sicilianern deſto ſchlimmer ergangen waͤre. Dieſes iſt nun das zweyte mal, daß Philiſtus, ein aͤchter Anhaͤn- ger des Syſtems meines Sophiſten, ob er gleich nicht faͤhig waͤre es ſo zuſammenhaͤngend und ſcheinbar vor- zutragen, uͤber Weisheit und Tugend den Sieg davon getragen hat. ‒‒ Und habe ich noch der Erfahrung vonnoͤthen, um zu wiſſen, daß er eben ſo gewiß uͤber einen andern Plato, und uͤber einen andern Agathon ſiegen wuͤrde? ‒‒ Wieviel ließ ich von meinen Grund- ſaͤzen nach, wie tief ſtimmte ich mich ſelbſt herab, da ich die Unmoͤglichkeit ſah, diejenigen mit denen ich’s zu thun hatte, ſo weit zu mir heraufzuziehen? Wozu half es mir? ‒‒ ich konnte mich nicht entſchlieſſen niedertraͤch- tig zu handeln, ein Schmeichler, ein Kuppler, ein Verraͤther an dem wahren Jntereſſe des Fuͤrſten und des Landes zu werden ‒‒ und ſo verlor’ ich die Gunſt des Fuͤrſten, und die einzige Belohnung, die ich fuͤr meine Arbeiten verlange, die Vortheile, welche dieſes Land von meiner Verwaltung zu genieſſen anfieng, auf ein- mal, weil ich mich nicht dazu bequemen konnte, alles fuͤr anſtaͤndig und recht zu halten, was nuͤzlich iſt ‒‒ O! gewiß Hippias, deine Begriffe und Maximen, deine Moral, deine Staatskunſt, gruͤnden ſich auf die Er- fahrung aller Zeiten. Wenn ſind die Menſchen jemals anders geweſen? Wenn haben ſie jemals die Tugend hochgeſchaͤzt, als wenn ſie ihrer Dienſte benoͤthigt wa- ren; und wenn iſt ſie ihnen nicht verhaßt geweſen, ſo bald ſie ihren Leidenſchaften im Lichte ſtuhnd? Dieſe S 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/277>, abgerufen am 26.11.2024.